Der Nationalsozialismus
in der Jugendliteratur

von Julian Hübecker

Am 9. Mai 2021 jährt sich der Geburtstag von Sophie Scholl zum hundertsten Mal. 1943 wurde sie zum Tode verurteilt und schließlich ermordet, weil sie sich traute, gegen das Naziregime vorzugehen und Flugblätter zu verteilen, die den Nationalsozialismus anprangerten. Wegen ihres Mutes wird sie bis heute gewürdigt; Schulen und Straßen in ganz Deutschland wurden nach ihr und ihrem Bruder benannt. Die Jugendbuch-Couch nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, herauszufinden, wie der Nationalsozialismus in Jugendbüchern behandelt wird, und gibt Leseempfehlungen.

Schullektüren

Deutschland wird eine produktive Auseinandersetzung mit seiner dunklen Vergangenheit nachgesagt – was sich nicht nur in etlichen Gedenkstätten widerspiegelt, sondern auch in den schulischen Lehrplänen: Zahlreiche Schullektüren eignen sich zum Diskutieren und Reflektieren und geben Einblicke in eine Zeit, die niemals mehr zurückkehren darf. Oft wird darin aus der Sicht jüdischer Kinder berichtet, wie diese den aufkommenden Nationalsozialismus und den zunehmenden Hass, der ihnen entgegenschlägt, erleben.

In Damals war es Friedrichetwa erlebt der titelgebende jüdische Junge, wie sich das soziale Umfeld um ihn herum wandelt, wie sein einst bester Freund sich von ihm zurückzieht und wie seine Mutter in der Reichspogromnacht getötet wird. Dieses Buch ist wohl der Klassiker im Schulunterricht, da es Gut und Böse nicht schwarzweiß zeichnet, sondern eine zwiegespaltene Gesellschaft zeigt, die dem Sog des Nationalsozialismus wenig entgegenzusetzen hatte.

Noch deutlicher wird es, wenn man an das Tagebuch der Anne Frank (Anne Frank, Fischer) denkt. In diesem berichtet Anne über zwei Jahre hinweg, wie sie in der Prinsengracht 263 gemeinsam mit ihrer Familie und weiteren Juden auf kleinstem Raum versteckt wurde, ehe man sie 1944 verriet und gefangen nahm. Die alltägliche Angst, aber auch ganz persönliche Gedanken einer heranwachsenden Jugendlichen machen das Buch zu einem Zeugnis jener Zeit, das betroffen macht, aber auch beeindruckt ob des Mutes dieses Mädchens.

Eine Auseinandersetzung mit der Schuld der Täter bietet Der Vorleser (Bernhard Schlink, Diogenes), 2009 mit David Kross und Kate Winslet in den Hauptrollen verfilmt. In der Geschichte verliebt sich der 15-jährige Michael Berg in die ältere Hanna Schmitz. Die beiden gehen eine Liebesbeziehung ein, ehe Hanna von einem Tag auf den anderen verschwindet. Jahre später trifft Michael sie unerwartet wieder, als er im Rahmen seines Jurastudiums eine Gerichtsverhandlung gegen ehemalige KZ-Wärterinnen besucht. Auch Hanna ist angeklagt, Juden auf einem Todesmarsch begleitet und einige von ihnen in eine brennende Kirche gesperrt zu haben, wo sie schließlich zu Tode kamen. Dieses Buch stellt ein mehrdeutigeres Verhältnis mit den Tätern dar, gesteht ihr gewissermaßen eine Opferrolle zu, die ihr aber ein Urteil nicht erspart.

In Die Blechtrommel (Günter Grass, dtv) geht es um den kleinen Oskar, der bereits als Kind beschließt, nicht mehr zu wachsen. Seine Kindheit verlebt er während der Nazizeit und muss das Fehlverhalten der Erwachsenen miterleben. Aus seiner unverblümten, den Erwachsenen überlegenen Sicht zeigt er die Ambivalenz und Missstände jener Zeit auf, wobei aber weniger der Holocaust an sich, sondern mehr die Entwicklung der Gesellschaft in den Blick genommen wird. Dieses Buch ist sehr diskussionswürdig und eher Literatur für die Sekundarstufe II. Wer aber einen äußerst ungewöhnlichen Roman jener Zeit lesen möchte, der sich an eine andere Herangehensweise herantraut, sollte sich daran versuchen.

Man könnte noch einige mehr nennen, doch allgemein kommen Schullektüren bei den Schülerinnen und Schülern weniger gut an; schon aus Trotz heraus werden diese oft mit anderen Augen gesehen als Bücher, die man in der Freizeit liest. Daher werden im Folgenden jene vorgestellt, die einen spannenden, emotionalen oder realistischen Einblick in die Zeit um die 1940er Jahre bieten.

Geschichten, die den wahren Schrecken aufzeigen

Bücher über fiktive Geschichten, die den Holocaust und Hitlers Machtübernahme thematisieren, gibt es zuhauf. Einige Autorinnen und Autoren scheinen es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, Bücher darüber zu schreiben. So etwa die mittlerweile verstorbene Mirjam Pressler, die beispielsweise mit Ein Buch für Hanna (Gulliver) oder Dunkles Gold berührende Geschichten erzählt. Besonders letzterer Titel ist spannend, da er eindrücklich zeigt, dass Antisemitismus ­– also eine feindliche Haltung gegen jüdische Mitbürger – bereits vor dem Nationalsozialismus existierte – denn bereits 1349 muss darin die junge Rachel erleben, wie sich Ausschreitungen gegen Juden im Land ausbreiten und vielfach tödlich enden. Geschickt wird eine Verbindung in die Gegenwart gezogen, in der Laura fasziniert ist vom Judentum und mehr über ihre Geschichte herausfinden möchte.

Die meisten Bücher beschäftigen sich allerdings mit der deutschen Vergangenheit und Hitlers Machtübernahme. Für Juden wurde das gesellschaftliche Klima schnell unerträglich: Sie wurden ausgegrenzt, beschimpft und enteignet, durften keine Immobilien mehr besitzen, wurden gekündigt, Kinder wurden aus der Schule genommen; einstige Freunde und Vertraute wandten sich ab, denunzierten jüdische Mitbürger und vertrieben sie. Wer es sich leisten konnte, zu fliehen, der raffte seine Besitztümer und suchte in Amerika, Großbritannien oder der Schweiz Zuflucht. Doch oft war kein Geld da, oder die Flucht wurde aus anderen Gründen zu einem Kampf ums Überleben. Uri Orlov schreibt in Lauf, Junge, Lauf über Srulik, der mit seiner Familie deportiert werden soll, dem jedoch die Flucht gelingt. Von nun an auf sich selbst gestellt, muss er sich eine falsche Identität zulegen und sich Arbeit suchen. Berührend und fesselnd verfolgt der Leser sein Martyrium, erlebt aber auch seine Anpassungsfähigkeit, die ihm das ein oder andere Mal das Leben rettet.

Auftakt einer Trilogie ist Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Bekannter geworden durch die gleichnamige Verfilmung ist es bereits ein Klassiker unter seinesgleichen. Auch hier begleitet man ein jüdisches Kind auf der Flucht: Anna gelingt es gemeinsam mit ihrer Familie, in die Schweiz zu flüchten. Leider muss sie ihr rosa Stoffkaninchen in Deutschland zurücklassen, das auch als Sinnbild für ein ganzes Leben steht. Durchaus als Schullektüre zu empfehlen, reiht es sich jedoch vor allem in jene Bücher ein, die man gelesen haben muss, um die Zeit im vollen Umfang zu verstehen.

Zahlreiches Konfliktpotential, aber auch Raum für Hoffnung und Emotionen bieten Geschichten, in denen verfolgte Juden auf Menschen treffen, die von Hitler nichts zu befürchten haben. Die Bücherdiebin etwa ist die 9-jährige Liesel, die fasziniert ist von Büchern und dadurch viele Werte aufsaugt wie ein Schwamm. Sie wächst bei Pflegeeltern auf, weil ihre Mutter als Kommunistin von den Nazis verfolgt wird. Mit diesem Wissen entwickelt Liesel eine Abneigung gegen das Naziregime. Als sie Max, einen verfolgten Juden, kennenlernt, will sie ihm helfen und versteckt ihn bei sich im Keller. Doch das bringt nicht nur sie in sehr große Gefahr.

Richtig unter die Haut gehen solche Bücher, die direkt in den zahlreichen Konzentrationslagern spielen. Ein klassisches Beispiel ist Der Junge im gestreiften Pyjama. Hier trifft der unbescholtene Junge Bruno auf einen jüdischen Jungen namens Schmuel, der in einem KZ gefangen gehalten wird und wie alle Häftlinge den gestreiften Häftlingsanzug tragen muss. Schmuel und Bruno lernen sich kennen, und aus Brunos unbeschwerter Kindheit wird eine Konfrontation mit dem Schrecken jener Zeit, die ein kindlicher Verstand auf eigenem Wege zu erklären versucht. Dieses Buch ist tatsächlich nichts für zart besaitete Gemüter, da es Abgründe menschliche Abgründe aufzeigt, die einen noch lange verfolgen werden – hier sei daher eindeutig eine Triggerwarnung mit auf den Weg gegeben.

Dann gibt es noch Bücher, die außerhalb von Deutschland spielen, aber zeigen, dass das Nazireich beinahe ganz Europa in seinen Fängen hatte. In den Niederlanden spielt Das Mädchen im blauen Mantel. Hier ist Hanneke auf der Suche nach einem jüdischen Mädchen, das in dem von den Nazis besetzten Land verloren gegangen ist. Das Verschwinden des geheimnisvollen Mädchens fesselt bis zur letzten Seite, nicht zuletzt dank der Protagonistin Hanneke, der man trotz aller Stärke die Überforderung jener Zeit offenbart.
Österreich wurde recht früh in das nationalsozialistisch regierte Deutsche Reich eingegliedert, weshalb die dortigen Juden und andere Verfolgte nicht mehr sicher waren. In Held Hermann ist die Familie von Hermann auf sozialistischer Seite und daher als Regimegegner in ständiger Gefahr. Die Autorin Leonora Leitl erzählt von einer sich wandelnden Gesellschaft, und davon, wie Menschen aus Angst und Unsicherheit die Seiten wechseln – oft, um einfach zu überleben. Hermann als zentraler Protagonist steckt mittendrin und muss auch innerhalb der Familie Geheimnisse aufdecken, die gefährlich werden können.
Noch weiter entfernt setzt Marianne Kaurin die Handlung ihres Buches Beinahe Herbst an: In Norwegen lebt die jüdische Familie Stern sorglos und mit vielen Plänen für die Zukunft. Doch dann wird auch dieses Land besetzt und die Juden deportiert. Begleitet wird Ilse Stern von der ersten Liebe bis hin zu einem Albtraum, aus dem sie nie wieder zu erwachen scheint. Eindringlich und schonungslos malt die Autorin furchtbare Szenen, die Sogwirkung haben.

Eine Brücke zwischen der nationalsozialistischen und der Nachkriegszeit schlägt Sie mussten nach links gehen. Die Geschwister Abek und Zofia sind unzertrennlich, bis sie in verschiedene Konzentrationslager gesteckt werden. Ein langes Martyrium folgt, das Zofia nur überlebt, weil sie ihren Bruder nicht im Stich lassen will. Auch nach dieser Zeit kann sie an nichts anderes denken, als endlich ihren Bruder wiederzufinden. Und so macht sie sich auf die Suche …

Basierend auf wahren Begebenheiten

Wiederum eine andere Gruppe von Büchern basiert auf wahren Begebenheiten, und spielt alleine deswegen schon in einer anderen Liga. Liest man diese Bücher, so muss man sich bewusst machen, wer hinter den Geschichten steht, und diese daher mit Respekt behandeln. Obwohl sie Schreckliches erlebt haben und so manche sich schworen, nie wieder darüber zu berichten, haben sie doch irgendwann zu erzählen begonnen. Diese Zeugnisse sind wichtig, um niemals zu vergessen, was Hass auf andere Menschen bewirken kann.

Dunkelnacht von Kirsten Boie ist eine Geschichte, die zwar auf wahren geschichtlichen Ereignissen beruht, die aber nur den Rahmen für den fiktiven Auftritt dreier Jugendlicher bildet. Gustl, Schorsch und Marie erleben das Massaker, das 1945 in Penzberg stattfindet, und bei dem sie jeweils eine andere Rolle spielen. Heftige Szenen sind nur eine Seite der Medaille; die andere die Beeinflussbarkeit Heranwachsender, welche aus falschen Motiven heraus furchtbare Haltungen entwickeln können.

Eine ungewöhnliche Perspektive nimmt Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel ein. Paula ist stolze NS-Anhängerin, ihr Vater arbeitet bei der Gestapo. Sorglos und naiv verfolgt sie die Geschicke Hitlers und versteht nicht die Ängste, die ihre Freundin Mathilda aussteht – dabei ist sie Halbjüdin. Paula steht bald vor der dringenden Frage, was ihr wichtiger ist: Ihre Loyalität zur Familie oder zu ihrer Freundin? Auch „Alodia, du bist jetzt Alice!“ erzählt aus außergewöhnlicher Sicht: Nachdem ihr Vater hingerichtet und ihre Mutter ins KZ deportiert wird, wird Alodia als rassentauglich eingestuft, weil sie mit ihren blauen Augen und blonden Haaren „arisch“ aussieht. Das rettet ihr zwar das Leben, doch wird sie dadurch auch entwurzelt. Als der Krieg vorüber ist, muss sie den schwierigen Weg zu ihrer Familie zurückfinden.

Vom gleichen Autor stammt Wir haben das KZ überlebt. Dieses Buch ist insofern besonders, weil es Zeitzeugen sprechen lässt, die die Gräueltaten der Nazis miterlebt haben. Ihre Familien sind dem Holocaust zum Opfer gefallen, sie selbst überlebten nur mit viel Glück. Zehn dieser Frauen und Männer wurden von Reiner Engelmann interviewt. Die Erlebnisse machen tief betroffen und lesen sich wie ein Albtraum, den man sich heutzutage nicht mehr vorstellen kann.

Eine Heldengeschichte ist Das Mädchen, das ein Stück Welt rettete und berichtet von der nichtjüdischen Polin Stefania, die mit der jüdischen Familie Diamant befreundet ist und sich sogar in den Sohn Izio verliebt. Doch dann fallen die Nazis ein und die Familie gelangt ins Ghetto. Stefania kann nicht dabei zusehen, wie ihre Freunde in Gefahr sind, und beginnt, einen gefährlichen Plan umzusetzen.

Zu guter Letzt soll an dieser Stelle Sophie Scholls eigenes Wirken honoriert werden. Gemeinsam mit ihrem Bruder Hans und weiteren Studenten hat sie als Widerstandskämpferin unter der Weißen Rose über Flugblätter die Verbrechen des NS-Regimes öffentlich gemacht, was auch international Aufmerksamkeit erregte. Nüchterne Fakten über ihre Person bietet Einer muss doch anfangen!. Alle, die ein Basiswissen über Scholl aufbauen wollen, finden hier einen Einstieg. Wesentlich tiefer geht Schluss. Jetzt werde ich etwas tun: Der Blick auf die Heldin wird persönlicher; ihre ambivalenten Gefühle und ihr Zwiespalt, als sie noch im Bund Deutscher Mädel tätig war, bevor sie zur glühenden Verfechterin der Freiheit für alle Menschen wurde, wird hier offenbart. Es zeigt nicht nur ein Bild von der mutigen Kämpferin, sondern auch von ihrer Angst, entlarvt zu werden – aber auch, dass es im Deutschen Reich Widerstand gab, und dass es nicht viel braucht, um für eine gerechte Sache einzustehen.

Wir leben in einer Zeit, in der die dunkle Vergangenheit Deutschlands langsam verblasst. Dafür zu sorgen, dass sie nicht völlig vergessen wird, ist unser aller Aufgabe; nicht um Buße zu tun, sondern um den kleinen Beitrag zu leisten, der nötig ist, damit wir auch in Zukunft in einem liberalen, kultur- und gesellschaftsoffenen Land leben können, das weit entfernt ist vom Hass der NS-Zeit. Diese Erinnerungskultur macht Deutschland aus und ist gerade in Zeiten zunehmender rechtspopulistischer Polemik und Gewalt wichtig und verantwortungsbewusst.

Gegen das Vergessen.

"Der Nationalsozialismus in der Jugendliteratur" von Julian Hübecker

Titelmotiv "Auschwitz": © istock.com/Clementa Moreno

Bild "Schuhe, Auschwitz": © istock.com/alessandro0770

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