11.2012 Interview mit Alice Gabathuler
Jugendbuch-Couch:
Liebe Alice, vielen Dank, dass du dir Zeit für uns nimmst. Magst du dich unseren Lesern kurz vorstellen? Wie lange schreibst du schon und was hat dich zu diesem Beruf geführt? Wie sieht dein Arbeitsalltag aus?
Alice Gabathuler:
Ich habe als Teenager geschrieben wie eine Wilde, alles wollte raus, in Tagebucheinträgen, Gedichten, Songtexten, Kurzgeschichten und angefangenen Büchern, von denen jedoch keines je fertig wurde. Später habe ich das Schreiben jahrelang nicht gerade auf Eis gelegt, aber auch nicht mehr so intensiv betrieben. Mit 39 (Midlife Crises sei Dank!) hat es mich wieder voll reingezogen. Ich habe mit Kurzgeschichten begonnen und mir in einem ausgezeichneten Schreibforum viel Wissen über das Schreiben angeeignet. Zum Beruf geführt hat mich die (fiktive) Figur Nick aus dem Blackout. Ich wollte eigentlich nichts anderes tun, als diesem Nick eine Geschichte schreiben, keine Kurzgeschichte, sondern eine richtig lange – und irgendwann (etwas genauer: nach vier Jahren) war diese Geschichte fertig. Ich habe dafür einen Verlag gesucht und wider Erwarten einen gefunden. Das Buch wurde veröffentlicht und ich war Autorin. Nick ist also schuld J Ich bin ihm sehr dankbar dafür, denn ich liebe diesen Beruf. Mein Arbeitsalltag ist so: Es gibt keinen typischen. Genau das gefällt mir ja so gut an meinem Leben als Autorin: Jeder Tag ist anders. Angefangen habe ich als totale Chaosschreiberin. Mittlerweile arbeite ich etwas strukturierter und im Moment schreibe ich tatsächlich ziemlich diszipliniert.
Jugendbuch-Couch:
Wie merkst du, dass sich eine Idee zu einem Roman verarbeiten lässt?
Alice Gabathuler:
Wenn sie sich in meinem Kopf einnistet und dazu Figuren, Bilder und Filmsequenzen entstehen, die mich nicht mehr loslassen, sondern mich weiterdrängen zu weiteren Figuren, Bildern und Filmsequenzen, bis ich voll davon bin, damit einschlafe, aufwache und tagträumend durch die Gegend laufe - an dieser Stelle eine Entschuldigung an all die Leute, an denen ich vorbeigehe, ohne sie zu sehen, weil ich in einer anderen Welt bin. Wenn ich diesen Punkt erreicht habe, weiß ich, dass ich die Geschichte nicht nur schreiben will, sondern auch muss, egal, ob sie dann ein Verlag haben will oder nicht.
Jugendbuch-Couch:
Wie bist du denn beim Schreiben von Thrillern gelandet? Was reizt dich an diesem Genre besonders?
Alice Gabathuler:
Gelandet bin ich da, weil es das ist, was ich unter anderem sehr gerne lese. Ich mag spannende Geschichten, die mich aufsaugen und erst wieder loslassen, wenn das Buch fertig ist. Was mich jedoch nicht reizt, ist Spannung nur um der Spannung willen. Ich verpacke in jedem Buch ein Thema, das mich beschäftigt. Und vor allem ist jedes Buch in erster Linie ein Zuhause für meine Figuren. Thriller eignen sich besonders gut, in die Abgründe dieser Figuren zu schauen.
Jugendbuch-Couch:
In deinem neuesten Buch "Matchbox Boy” geht es kurz gesagt um drei Mädchen, deren dunkelste Geheimnisse vom sogenannten Matchbox Boy in einem Internet-Blog unter Einbeziehung der Blog-Leser offenbart werden sollen. Was hat dich zu dieser Story inspiriert?
Alice Gabathuler:
Ich bin nicht zuletzt dank des Internets zum Schreiben von Büchern gekommen. Am Anfang war ich einfach nur völlig fasziniert von all den Möglichkeiten. Ich war (und bin) in Schreibforen, blogge seit Jahren, bin mit vielen Autorenkollegen vernetzt und kenne die Vorteile des Internets. Aber mit der Zeit habe ich ein sehr kritisches und zwiespältiges Verhältnis dazu bekommen. Ich finde es erschreckend, dass man auf FB Hassgruppen gründen kann, in Kommentaren zu Blogs und FB Einträgen Gift und Galle spuckt, kurz, die innere Sau rauslässt, weil man bequemerweise (und auch sehr feige) seinem Gegenüber dabei nicht in die Augen sehen kann und muss. Zudem sind mir viele Anbieter zu groß, zu kontrollierend, zu undurchsichtig (Datenschutz) und zu mächtig. Es ist wie mit fast allem: Eigentlich ist das Internet eine gute Sache, aber es wird von zu vielen Menschen missbraucht. Eine ganz schlimme dunkle Seite des Internets ist das Mobbing. Weil ich für Jugendliche schreibe und dabei Themen beleuchte, die sie betreffen, hat sich die Geschichte des Matchbox Boys förmlich aufgedrängt.
Jugendbuch-Couch:
Cyberbullying und Mobbing. Drei Mädchen, die von ihrem Thron gestoßen und der Entscheidungsgewalt der Meute ausgeliefert werden, die durch Abstimmungen auf besagtem Blog über deren Schicksal entscheiden. Hätte der Thriller auch ohne das Internet funktioniert?
Alice Gabathuler:
Nicht in dieser Form. Die Dynamik, die das Verhalten der User auslöst, ist ein zentraler Punkt der Geschichte, denn am Ende machen ja weit mehr Leute mit als es Schüler an der Schule hat; die Geschichte entwickelt ein Eigenleben weit über die Schule hinaus. Wie ein Mädchen an einer Matchbox Boy Lesung so treffend gesagt hat: "Facebook ist die Welt.” Und in dieser Welt bloßgestellt zu werden, kann bedeuten, seine ganze Welt zu verlieren (die reale und die virtuelle).
Jugendbuch-Couch:
Hatten die drei Mädchen überhaupt eine Chance?
Alice Gabathuler:
Wahrscheinlich nicht, weil sie in einer Welt leben, in der der Schein sehr wichtig ist. Sie fürchten sich davor, was andere über sie denken und sagen. Man muss schon sehr stark sein, um so etwas zu ignorieren oder vorbeiziehen zu lassen. Ich weiß nicht, ob wir je den Moment erreichen, in dem wir über diesen Dingen stehen, in dem wir Shitstorms gelassen hinnehmen und Mobbing mit einem Schulterzucken beiseite schieben können. Immerhin wird das Problem erkannt. Bei uns in der Schweiz beginnt in diesen Tagen eine Kampagne, die über Internetmobbing aufklärt.
Jugendbuch-Couch:
Was ist bedrohlicher: der rachsüchtige Matchbox-Boy als kontrolliert vorgehende Person oder die sensationsgierige Meute, die nicht kontrollierbar ist?
Alice Gabathuler:
Physisch ist es der Matchbox Boy. Er kann die Hauptfigur körperlich quälen oder gar töten. Ganz egal, wie die Abstimmungen ausgehen: Er entscheidet. Und trotzdem finde ich die sensationsgierige Meute extrem bedrohlich. Sie löst eine Dynamik aus, die nur sehr schwer zu stoppen ist. Die anonyme Masse hat sehr viel Macht. Sie kann sich gegen jemanden wenden, eine Person ausgrenzen und fertig machen, bis sie keinen anderen Ausweg mehr sieht, als sich umzubringen. Den Vater des Jungen, von dem ich im Buch schreibe, gibt es wirklich. Und er ist nicht der einzige. Ich mache zurzeit die ersten Lesungen zum Matchbox Boy und viele Jugendliche sagen ganz offen, dass auch sie immer weiter klicken würden, durch alle Abstimmungen, bis hin zur letzten. Gleichzeitig wissen sie, dass das falsch ist, aber für sie ist das einfach Internet und solange es sie nicht persönlich betrifft, irgendwie abstrakt. Es sind ja nur Klicks. Sie wissen, was sie tun und bringen es doch nicht mit sich in Verbindung, da sie ja nur eine Person von vielen sind.
Jugendbuch-Couch:
Die drei Mädels sind anfangs verwöhnt und egoistisch. Ist es schwierig, trotzt dieser Eigenschaften dennoch Sympathien für die drei zu wecken? Und wie viel Mitleid darf man für den Täter entwickeln?
Alice Gabathuler:
Der Matchbox Boy ist das schwierigste Buch, das ich je geschrieben habe, gerade weil die Hauptfiguren keine Sympathieträger sind. Ich fand Jorina schrecklich und ich mochte den Jungen viel zu sehr. Immer wieder ertappte ich mich dabei, den Matchbox Boy sympathisch machen zu wollen, bis ich mir eines Tages sagte: Er ist böse. Böse. Böse. Böse. Auch wenn er seine Gründe hat – nichts rechtfertigt, was er tut. Ich glaube, die Matchbox Boy Geschichte funktioniert nur, weil man mit der Zeit versteht, warum der Junge das tut und weil die Mädchen, vor allem Jorina, einen schmerzhaften Prozess durchmachen, an dessen Ende sie wesentlich vielschichtiger sind als am Anfang. Wir Menschen sind ja nicht entweder ganz gut oder ganz böse; wir haben beides in uns, und ich finde, man darf auch beides zeigen, weil es einfach zum realen Leben dazugehört. Aber es ist schon so: Mit dem Matchbox Boy habe ich Grenzen in Bezug auf die Sympathien ausgelotet und ich war nicht sicher, wie das Buch ankommen würde, da die drei Mädchen am Anfang wirklich sehr negativ rüberkommen – und der Junge schreckliche Dinge tut.
Jugendbuch-Couch:
Das Thema Sex scheint in vielen Jugendromanen noch immer nicht wirklich offen behandelt zu werden. Deine Hauptfiguren machen sich über dieses Thema schon recht freizügig Gedanken. Hat das zu Problemen geführt?
Alice Gabathuler:
Bis jetzt noch nicht. Da sich meine beiden letzten Bücher (dead.end.com und Matchbox Boy) an eine etwas ältere Zielgruppe richten, habe ich beide in der kompromisslosen Maximalvariante geschrieben, will heißen, genauso, wie sie meiner Meinung nach sein müssen, um ganz dicht am realen Leben zu sein. Bei beiden Büchern habe ich damit gerechnet, vom Lektorat zurückgebunden zu werden, und ich hätte das auch verstanden und akzeptiert. Überraschender- und erfreulicherweise war das nicht der Fall. (An dieser Stelle dem Thienemann Verlag einen herzlichen Dank dafür!)
Jugendbuch-Couch:
Die Story beginnt kurz vor dem eigentlichen Ende und zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit wechselnd rollst du die Ereignisse auf. Ist es schwierig, den Überblick zu behalten?
Alice Gabathuler:
Und wie! Vor allem, weil ich meine Bücher nie genau plane, sondern nur eine Grundidee und einen sehr losen roten Faden habe. Der Rest entwickelt sich beim Schreiben. Es ist auch nicht so, dass ich mir gesagt habe: Ich will mit dem Ende beginnen, gucken wir mal, wie sich das machen lässt. Es war – wie schon bei dead.end.com – einfach so, dass sich diese Erzählstruktur aufgedrängt hat. Vielleicht klingt das blöd, aber ich fühle die Struktur eines Buches, sie ergibt sich von selbst, manchmal wächst sie auch automatisch heran. Ganz anders ist es mit der Erzählperspektive. Da hirne ich oft wochenlang herum. Ich kann ein Buch erst zu schreiben beginnen, wenn ich weiß, aus welcher Perspektive / welchen Perspektiven ich es erzählen will. PS: Das nächste Buch erzähle ich linear.
Jugendbuch-Couch:
Gibt es Personen, die deinen Schreibprozess begleiten? Was ist das Schwierigste beim Schreiben, und was macht am meisten Spaß?
Alice Gabathuler:
Ich bin die typische Schreiberin im stillen Kämmerlein. Das Zusammensein mit meinen Figuren ist etwas sehr Intimes. Ich kann das nicht teilen, nicht, solange die Figuren noch unfertig und ihre Geschichte noch nicht so ist, wie sie für mich sein soll. Das geht so weit, dass ich den Laptop zuklappe, wenn jemand so nahe an mir sitzt, dass er mitlesen könnte.
Das Schwierigste: Wenn ich eine wunderbare Szene im Kopf habe und sie nicht in den Laptop bekomme. Ich tue mich generell sehr schwer mit der Erstversion meines Buches. Das ist manchmal ein echtes, zuweilen frustrierendes Geknorze. Dafür überarbeite ich sehr gerne.
Am meisten Spaß macht das Verweilen mit meinen Romanfiguren, das Eintauchen in ihre Welt. Und handwerklich das Überarbeiten.
Jugendbuch-Couch:
Was ist denn für dich der schönste Moment bei der Entstehung eines neuen Buches. Es endlich in der Hand zu halten? Die ersten Meinungen zu hören? Das Wort "Ende” unter das Manuskript zu setzen?
Alice Gabathuler:
Das Verweilen mit meinen Figuren, das Eintauchen in ihre Welt, mit ihnen zusammen durch die Geschichte zu gehen, mit ihnen zu leben. Während eines Projekts sind sie IMMER bei mir, und sie bleiben auch danach. Ein Schüler hat einmal bei einer Lesung zu mir gesagt: Dass Sie sich an alle ihre Geschichten erinnern können. Und ich habe geantwortet: Ich kann das, weil ich genau weiß, wer sie erlebt hat. "Ende” hinzuschreiben löst widersprüchliche Gefühle aus: Erleichterung, es geschafft zu haben, Wehmut, dass es vorbei ist. Die ersten Meinungen fürchte ich. Da habe ich einen Riesenbammel davor.
Jugendbuch-Couch:
Wie wichtig ist es heutzutage für Autoren, im Internet präsent zu sein?
Alice Gabathuler:
Eine Webseite ist meiner Meinung nach ein Muss. Sie ist Visitenkarte und Anlaufstation für Interessierte. Aber unter Internetpräsenz versteht man heute ja vor allem die Social Media. Alle wollen einem einreden, dass es ohne eine Präsenz dort nicht geht. Das geht so weit, dass es heute Verlage gibt, die ihren Autoren ans Herz legen, sich Facebook und Twitter Accounts anzulegen, allenfalls noch bei Google Plus einzusteigen. Und wer seine Bücher selber veröffentlicht, hat schon fast keine andere Wahl. Ich glaube aber, Präsenz in den Social Media macht nur Sinn, wenn der Autor / die Autorin sich gerne darin bewegt und sich dabei wohl fühlt.
Jugendbuch-Couch:
Vom 10. bis zum 14. Oktober hat wie jedes Jahr die Buchmesse in Frankfurt stattgefunden. Warst du dort?
Alice Gabathuler:
Ja, ich war dort - obwohl mir große Menschenmengen ein Albtraum sind und mich die schiere Größe der Messe und die Anzahl der Bücher schlicht erschlägt. Ich bin hauptsächlich hingegangen, um Menschen zu treffen, allen voran Autorenkollegen aus dem Schreibforum, aber auch die Leute vom Thienemann Verlag, mit denen sich immer so wunderbar reden und diskutieren lässt. Ich glaube, ich habe den größten Teil der Zeit in Cafés verbracht, bei spannenden, anregenden Gesprächen. Besonders toll waren die Übernachtungen bei Autorenkollegin Jutta Wilke. Sie hat ihr Haus für die Zeit der Buchmesse zu einer Buchmenschherberge gemacht. An ihrem Küchentisch zu sitzen und mit all den interessanten Menschen zu reden, war ein Höhepunkt dieser Messezeit. Ein weiterer Höhepunkt war die Verleihung des deutschen Jugendliteraturpreises.
Jugendbuch-Couch:
Gibt es eine Frage, die du schon immer gern in einem Interview gestellt bekommen hättest, die bisher aber noch nie aufgetaucht ist? Wenn ja, wie lautet diese Frage und bitte verrate uns doch auch die Antwort darauf!
Alice Gabathuler:
Frage: "Finden Sie, dass das Kinder- und Jugendbuch in den klassischen Medien genügend Aufmerksamkeit erhält.”
Antwort: "Nein, nein und nochmals nein.”
Und wenn ich mehr dazu sagen dürfte: "Man hört und liest in diesen Medien vor allem, dass Kinder und Jugendliche (angeblich!) nicht mehr lesen, dass sie nicht mehr schreiben können, dass ihnen die Sprache verloren geht usw. Erstens ist das nicht wahr und zweitens laufen an Schulen und in Bibliotheken wunderbare und spannende Projekte in Bezug auf die Leseförderung (Lesungen, Schreibwerkstätten, Lese- und Schreibwettbewerbe, Erzählnächte, Projektwochen und und und). Nur: Die klassischen Medien haben dazu nichts zu berichten. Oder gar Kinder- und Jugendbücher vorstellen? Rezensieren? Fast völlige Fehlanzeige (die Ausnahmen haben auf einem Papiertaschentuch Platz!). Leider ist es so: Noch immer geben diese klassischen Medien den Ton an, gewichten und werten mit ihrer Themen(nicht)wahl ab. Was diesen Medien nicht wichtig ist, kann nicht wichtig sein. DAS ist das Signal, das sie an die Eltern und ihre Kinder aussenden: Kinder- und Jugendliteratur ist nicht wichtig – um sich gleichzeitig in langen Artikeln zu fragen, warum die heutige Jugend nicht liest. Es ist zum in den Tisch beißen. Zum Glück gibt es das Internet. Dort laufen die wirklich spannenden Projekte im Kinder- und Jugendbuchbereich, dort besteht ein breitgefächertes Angebot, dort nimmt man die Jugendliteratur ernst.
Jugendbuch-Couch:
Liebe Alice, vielen Dank für das Interview!
Corinna Götte, November 2012
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