Sophie Gonzales

09.2021 Interview mit Sophie Gonzales zum Buch „Nur fast am Boden zerstört“

Natürlich ist es immer auch wichtig, auf das Gegenüber einzugehen, aber nicht auf Kosten des eigenen Wohlbefindens.

Jugendbuch-Couch: Bevor das Interview beginnt, muss ich ein großes Lob für die Figur Ollie aussprechen. Es hat viel Spaß gemacht, ihn zu begleiten und ich kann mir vorstellen, dass Du auch viel Spaß beim Schreiben hattest. Basiert Will auf einer Dir bekannten Person oder woher kommt die klare Struktur der Figur?

Sophie Gonzales: Vielen Dank! Nein, Ollie basiert auf niemandem, den ich persönlich kenne. In ihm stecken Anteile von mir selbst, wie bei all meinen Figuren – in diesem Fall meine Selbstironie, meine Liebe zur Musik und mein Familiensinn. Aber davon abgesehen hat sich seine Stimme schon früh im Schreibprozess von selbst deutlich herauskristallisiert. Ich schien immer sofort intuitiv zu wissen, wie er sich verhalten würde. Dieses Jahr den Kurzroman zu schreiben war ein Genuss, denn selbst nach zwei Jahren Trennung von Ollie ist seine Stimme in meinem Kopf sofort wieder lebendig geworden!

Jugendbuch-Couch: Du hast Dich dafür entschieden, Dich nicht nur auf das Thema LGBTQ+ zu konzentrieren. Zwei weitere wichtige Themen sind die Musik und der Tod. Warum war es wichtig, Ollie mit dem Tod zu konfrontieren?

Sophie Gonzales: Als Psychologin ist mir aufgefallen, dass viele in ihren Teenager-Jahren ihren ersten großen Verlust erleben, sei es ein Familienangehöriger oder ein Freund. Eine der Fragen, die ich am häufigsten gehört habe, war: „Aber ist es denn normal, dass es mir so geht?“ Ich wollte eine Bandbreite verschiedener Trauerreaktionen abbilden – alle normal, alle berechtigt – um aufzuzeigen, dass sich Trauer auf verschiedenste Arten und Weisen äußern kann: vielleicht macht sie dich rasend vor Wut, oder ganz still, oder sie führt dazu, dass du dich mit deiner eigenen Sterblichkeit beschäftigst; sie kann dich sofort treffen, oder mit Verzögerung, und manchmal kommt und geht sie in Wellen. Ich glaube, sich dessen bewusst zu sein, hilft jungen Menschen, sich darauf vorzubereiten, wenn sie irgendwann unausweichlich selbst einen solchen Verlust erleiden. Das lindert nicht den Schmerz, aber vielleicht schmälert es diese Angst, dass die individuelle Trauerreaktion etwas sein könnte, worum man sich Sorgen machen oder wofür man sich schämen muss. 

Jugendbuch-Couch: Welche Rolle spielt Musik in Deinem eigenen Leben?

Sophie Gonzales: Ich kann gar nicht ohne Musik. Ich habe schon gesungen, als ich noch in den Windeln steckte, ich spiele Klavier und habe auch mal Gitarre gespielt, und ich habe schon in einigen Musicals auf der Bühne gestanden! Musik ist eines der größten Geschenke im Leben.

Jugendbuch-Couch: Nun geht es um eine schwule Liebesgeschichte, nämlich zwischen Ollie und dem Sport-Ass Will. Was können die beiden voneinander lernen?

Sophie Gonzales: Ollie lernt dank Will, seine Bedürfnisse klar zu kommunizieren, aber auch, dass Beziehungen jenseits der Familienkonstellation Opfer erfordern. Ollie’s große Herausforderung liegt darin, unterscheiden zu lernen, wann er ein notwendiges Opfer erbringt und wann er sich ausnutzen lässt. Will erfährt dank Ollie Geborgenheit und Selbstsicherheit, lernt aber auch, zu erkennen, wann es in Ordnung ist, die eigenen Interessen an erste Stelle zu setzen und wann er vielleicht einfach das Wohl und die Gefühle einer anderen Person nicht genug berücksichtigt.

Jugendbuch-Couch: Was können die Leserinnen und Leser vom Buch mitnehmen? Vielleicht sogar ungeoutete Jugendliche, die nicht wissen, wie sie mit ihrer Sexualität umgehen sollen?

Sophie Gonzales: Ich würde mich freuen, wenn junge Leser und Leserinnen lernen, dass es wichtig ist, Grenzen zu setzen, und dass man nie das Gefühl haben sollte, die eigenen Bedürfnisse seien unwichtiger als die eines anderen. Natürlich ist es immer auch wichtig, auf das Gegenüber einzugehen, aber nicht auf Kosten des eigenen Wohlbefindens. Ich hoffe, dass die Leser und Leserinnen nachvollziehen können, warum manche der Charaktere tun was sie tun, und vor allem, wann diese Handlungen verzeihlich sind und wann sie gewisse Grenzen überschreiten.

Und zum Schluss noch ein paar Shorties:

Jugendbuch-Couch: Lieblings-Jugendbuch-Autor?

Sophie Gonzales: Holly Black

Jugendbuch-Couch: Lieblings-Protagonist eines Jugendbuchs?

Sophie Gonzales: Anita Sánchez aus „Not Even Bones“ (bisher nicht in Deutschland erschienen, Anm. d. Red.)

Jugendbuch-Couch: Lieblings-Jugendbuch?

Sophie Gonzales: „We are the Ants“ – Shaun David Hutchinson (bisher nicht in Deutschland erschienen, Anm. d. Red.)

Jugendbuch-Couch: Welches Thema lässt Dich zu einem Jugendbuch greifen?

Sophie Gonzales: Romantik!

Jugendbuch-Couch: Der schönste Moment in einem Buch?

Sophie Gonzales: Der Twist in „Elfenkrone“

Das Interview führte Julian Hübecker im September 2021.
Übersetzt aus dem Englischen von Yannic Niehr.
Foto © Melbourne Actor’s Heads

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