Enola Holmes

Film-Kritik von Julian Hübecker / Titelmotiv: © Robert Viglasky /Legendary

Am 23.09. startete die Verfilmung des erfolgreichen Buches Der Fall des verschwundenen Lords von Nancy Springer auf Netflix. Starbesetzt und im Debut produziert, sind die Erwartungen an eine möglichst stimmungsvolle Umsetzung des Buches hoch. Im Mittelpunkt steht Enola Holmes, jüngere Schwester des berühmten Sherlock Holmes und des eher unsympathischen Mycroft Holmes.

Der verschwundene Lord

Enola (Millie Bobby Brown, StrangerThings) lebt mit ihrer Mutter Eudoria in einem steinernen Landhaus, der Vater längst verstorben, die Brüder bereits ausgezogen. Eudoria Holmes (Helena Bonham Carter, HarryPotter, SweeneyTodd) gibt ihr Bestes, um Enola auf ein selbstbestimmtes Leben vorzubereiten – und das in einer Zeit, in der die gesellschaftliche Stellung der Frau noch nicht so rosig ist. Dennoch lehrt sie Enola Lesen, Kampfsport und Wissenschaften und zieht damit ein Mädchen auf, das ihrer Zeit weit voraus ist.

Eines Morgens jedoch – Enola wird sechzehn Jahre alt – verschwindet ihre Mutter spurlos. Sie hinterlässt ihrer Tochter einzig ein Kästchen mit Blumenkarten und einigen versteckten Hinweisen, die Enola jedoch erst ratlos zurücklassen. Da Enola nicht alleine wohnen kann, nehmen sich ihre Brüder ihrer an. Sherlock Holmes (Henry Cavill, Man of Steel, The Witcher) hat sich nie wirklich um seine Schwester gekümmert, sein einziger Lebensinhalt ist stets die Detektivarbeit gewesen. Daher interessiert ihn anfangs auch nur das Verschwinden der Mutter. Mycroft (Sam Claflin, Ein ganzes halbes Jahr) ist dagegen umso schockierter vom Erscheinungsbild seiner Schwester: ungepflegt, vorlaut und überhaupt nicht so, wie sich eine vornehme Dame verhalten sollte. Daher plant er auch, Enola in ein Mädchenpensionat zu schicken, um sie dort die richtigen Manieren lernen zu lassen. Enola ist geschockt und will ihr eigenes Schicksal bestimmen: Sie entschlüsselt die Botschaft der Mutter, entdeckt eine ausreichende Menge Bargeld, das diese ihr hinterlassen hat und verlässt des nachts das Grundstück, um mit dem Zug nach London zu reisen.

In ihrem Abteil angekommen, erlebt sie eine Überraschung: Aus einer herrenlosen Tasche schält sich ein Junge in ihrem Alter. Er stellt sich als Lord Viscount Tewksbury (Louis Partridge, Die Medici: Herrscher von Florenz) vor, der aus dem eingezwängten Leben seiner hochwohlgeborenen Familie ausbrechen möchte. Enola, die als Junge reist und daher kein Aufsehen erregen darf, will den selbstbewussten Kerl loswerden. Doch dann wird er vom zwielichtigen Linthorn (Burn Gorman, The Dark Knight Rises) überrascht, der ihm ans Leder will. Im letzten Moment kann Enola Tewksbury retten und mit einem Sprung aus dem Zug in letzter Sekunde entkommen.

In London trennen sich schließlich die Reisegefährten, da Enola sich ganz der Suche nach ihrer Mutter widmen möchte. Doch bald wird ihr klar, dass der Fall um Tewksbury viel größere Ausmaße annimmt und die politische Zukunft Großbritanniens aufs Spiel setzen könnte…

Top Besetzung

Enola Holmes hat nicht nur eine hervorragende Besetzung, sondern ist für Millie Bobby Brown auch das Debut als Produzentin ­– eine große Verantwortung auf so jungen Schultern. Schließlich ist Holmes ein großer Name, der für viel Raffinesse und Überraschungen steht. Doch die Jungschauspielerin hat in vielerlei Hinsicht ihr Können unter Beweis gestellt.

Bekannt aus der Erfolgsserie Stranger Things hat Brown sich zu einer einflussreichen jungen Frau gemausert, die gefragter ist als je zuvor. Ihre Verkörperung der Enola Holmes liegt nahe, ihr britischer Akzent (wenn man den Film im Original schauen möchte) und ihre Wandlungsfähigkeit beeindrucken ­– ob als Knabe oder trauernde Witwe, sie spielt ihre Rollen überzeugend und mit einem Augenzwinkern.

Auch ihre Mitschauspieler sind gut gewählt: Helena Bonham Carter ist aus der Filmlandschaft nicht mehr wegzudenken und wird wegen ihrer Vielseitigkeit gerne besetzt. Die Rolle der emanzipatorischen Mutter, die so gar nicht ladylike ist, ist ihr wie auf den Leib geschnitten. Dabei scheint sie ein wenig der Verrücktheit der Bellatrix Lestrange mit übernommen zu haben ­– oder eben ihre eigene Quirligkeit. Man kann nur vermuten, wie viel Spaß die Arbeit mit ihr am Set gemacht haben muss.

Die Brüder Holmes weichen ein wenig von den bekannten Charakteren ab. Insbesondere Sherlock wird empathischer – was vielen nicht gefallen dürfte –, dafür aber ist diese Darstellung eine erfrischende Abwechslung für die klassische Figur. Henry Cavill, der gerade für The Witcher wieder vor der Kamera steht, mimt den berühmten Detektiv von einer attraktiven Seite und versteht durchaus auch Humor. Währenddessen schlüpft Sam Claflin in das genaue Gegenteil und ist darüber hinaus kaum wiederzuerkennen; den stets ernsten, pragmatischen Mycroft trifft er gekonnt.

Überraschend ist die Darstellung des jungen Lords durch Louis Partridge: Dies ist die erste große Rolle für den Schauspieler und gerade deswegen eine unerwartete Wahl. Mit seiner ungezwungenen, charmanten Art, die er der Rolle verleiht, wird er Kritiker wie Zuschauer jedoch von sich überzeugen können. Zwei weitere Besetzungen sind mit Fiona Shaw (Harry Potter) als Miss Harrison, der Leiterin des Pensionats, und Frances de la Tour (Into the Woods, Harry Potter) als Tewksburys Großmutter sehr gelungen.

Raffinierter Krimi mit einigen Besonderheiten

Gebettet ist der Film in ein viktorianisches England zu Zeiten der Industrialisierung. Die Fabrikschlote qualmen, die Züge dampfen und die Stadt quillt über vor Menschen aller Art. Es ist eine Zeit des Umbruchs, in der sich die Frauen immer mehr erheben für mehr Wahlrecht und öffentliche Beteiligung. Das Wesen der Zeit wird überzeugend eingefangen, bekommt aber einen träumerischen, liebevollen Anstrich. Der Dreck jener Zeit weicht vielmehr einem aufgeräumten Ambiente, wie man es aus diversen Musicalverfilmungen kennt. Wären alle Darsteller zum Ende hin auf die Straße gesprungen und hätten eine große Nummer dargeboten, wäre dies nicht überraschend gewesen (haben sie aber nicht).

Ein schöner Kniff des Films ist die Interaktion Enolas mit dem Publikum: Ihre Blicke in die Kamera und auch die direkte Ansprache der Zuschauer passen hervorragend in das verspielte Setting, zur vertrauenserweckenden Art der Jungdetektivin und zum Erreichen des Zielpublikums. So wird auch ein wenig von der Schärfe in brenzligen Situationen genommen und durch witzige Kommentare aufgelockert.

Fazit:

Enola Holmes ist eine humorige Umsetzung des Jugendkrimis von Nancy Springer. Hier stimmt tatsächlich mal alles: Besetzung, Setting und Kostüme, auch die Dialoge der Figuren und deren Interaktionen fügen sich perfekt in die Geschichte ein. Eine unbedingte Empfehlung!

Bilder: © Netflix

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