Wie ein Stein in mir

  • Sauerländer, 2008, Titel: 'Mijn stilte', Originalausgabe
Wie ein Stein in mir
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Yvonne Schulze
9101

Jugendbuch-Couch Rezension vonApr 2012

Man lässt ein krankes Kind nachts nicht allein, und man lässt Kinder in diesen Zeiten nicht allein.

Das meint Jugendbuch-Couch.de: "Man lässt ein krankes Kind nachts nicht allein, und man lässt Kinder in diesen Zeiten nicht allein."

[Jugendbuch des Monats - April 2012]
Im Juli 1942 wird das 13jährige jüdische Mädchen Esther in das Waisenhaus von Dr. Janusz Korczak im Warschauer Ghetto gebracht. Esther ist tief traumatisiert. Sie hat ihre Familie und ihr Zuhause verloren. Sie hat Schlimmes erlebt, das ihr die Stimme geraubt hat. Esther kann nicht mehr sprechen. Im Waisenhaus von Dr. Korczak spürt sie das erste Mal wieder Wärme, Geborgenheit und Zuneigung. Das Mädchen Naomi wird ihre Freundin und kümmert sich rührend um sie. Die liebevolle Ungezwungenheit der anderen Kinder, das pralle Leben im Waisenhaus und das Verständnis der Erwachsenen bewirken letztendlich, dass Esther ganz allmählich wieder zu leben beginnt. Besonders Dr. Korczak bemüht sich sehr um das verstörte Mädchen. Doch der Krieg ist immer präsent, und der Tod hat schon seine Hände nach diesen Kindern ausgestreckt. 

Die niederländische Autorin Ina Vandewijer widmet sich in ihrem Buch einem der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte: der Judenverfolgung während des 2. Weltkriegs. Und das macht sie auf sehr behutsame, fast spielerische Art und Weise. Doch hinter all der vermeintlichen Leichtigkeit ist ständig das Grauen präsent, wird man immer wieder daran erinnert, dass Krieg herrscht und der Tod hinter jeder Ecke lauert. Je weiter man liest, desto mehr hat man als Leser das Bedürfnis, in die Romanhandlung eingreifen, ihr eine andere Wendung geben zu wollen und damit diesen Kindern das schreckliche Schicksal zu ersparen, das ihnen bestimmt ist. Dieses Buch ist ganz sicher keines, das man mal so nebenbei verschlingt. Auf dieses Buch muss man sich einlassen können, denn es macht betroffen, und es ist beklemmend.

Die Geschichte ist trotz ihrer Einfachheit sehr komplex. Sie erfordert aufmerksames Lesen, denn die Feinheiten stecken hier oft in Nebensätzen oder sind zwischen den Zeilen verborgen. Der Erzählstil ist ungewöhnlich und anfangs sicher gewöhnungsbedürftig, man liest sich aber relativ schnell ein, und dann lässt sich die Geschichte auch ohne große Anstrengung lesen.

Der Autorin gelingt es, dieses schwierige Thema für junge Leser nachvollziehbar und mit den richtigen Worten aufzuarbeiten, ihnen das Grauen dieser Zeit zu verdeutlichen, sie dabei emotional aber nicht zu überfordern. Erzählt wird die Geschichte komplett aus Esthers Sicht, dabei wechseln sich Ich-Erzählung und Esthers Tagebuchaufzeichnungen ab und man bekommt einen tiefen Einblick in Esthers Gedankenwelt. Dazwischen gibt es immer wieder Seiten mit Zitaten von Dr. Korczak, die die Klugheit und Weitsicht dieses begnadeten Pädagogen zeigen. Esther und Dr. Korczak sind die herausragenden Figuren in dieser Geschichte. Im Laufe der Handlung erfährt man so nach und nach, was Esther Schlimmes erlebt und was ihr dann letztendlich die Stimme genommen hat. Man erfährt aber auch einiges über Dr. Korczak und seinen täglichen Kampf, den ihm anvertrauten Kindern in diesen schwierigen Zeiten, in denen Hunger und Gewalt herrschen, so etwas wie Unbeschwertheit und Geborgenheit zu geben. Im Anhang des Buches gibt es dann auch zusätzliche Informationen, Berichte von Zeitzeugen, Fotos und eine kurze Biographie zu Dr. Korczak. 

Historischer Hintergrund

Auch wenn die Romanhandlung fiktiv ist, hat sie doch einen historischen Kern. Dr. Janusz Korczak hat es tatsächlich gegeben, genauso wie sein 1911 für jüdische Kinder gestiftetes Waisenhaus "Dom Sierot" in Warschau. Korczak ging als Pädagoge neue und für die damalige Zeit ungewöhnliche Wege. Sein Waisenhaus war eine Art Kinderrepublik mit einem eigenen Parlament, einem Kindergericht und einer Zeitung. Im August 1942 wurde das Waisenhaus im Zuge der Räumung des Warschauer Ghettos aufgelöst, und die Kinder wurden in den Tod geschickt.

"Das war kein Marsch in die Waggons, sondern ein stillschweigend organisierter Protest gegen das mörderische deutsche Regime. Alle Kinder gingen in Viererreihen. An der Spitze ging Korczak. Er hatte den Blick zum Himmel gewandt und hatte zwei Kinder an der Hand. … Sie gingen in den Tod mit Augen voller Hohn für ihre Mörder."

FAZIT

Eine Geschichte, die im Gedächtnis haften bleibt und einen lange nicht mehr loslässt. Ein anspruchsvolles Jugendbuch mit einem ungewöhnlich schönen, manchmal fast poetischen Schreibstil. Dieses Buch ist für all diejenigen Leser gedacht, die sich für deutsche Geschichte interessieren, die gern anspruchsvolle Jugendbücher jenseits des Mainstream lesen und eine sensibel erzählte Geschichte voller Herzlichkeit und Wärme, durchzogen von leiser Melancholie und tiefer Traurigkeit zu schätzen wissen. 

Wie ein Stein in mir

Ina Vandewijer, Sauerländer

Wie ein Stein in mir

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