Die verlorenen Schuhe

  • Thienemann, 2010, Originalausgabe
Die verlorenen Schuhe
Die verlorenen Schuhe
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Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Die Deutsche Inge Backen aus Schlesien und die gleichaltrige Wanda Masowiecki aus Polen. Inge, privilegierte  Tochter eines Gutsbesitzers, ist behütet aufgewachsen. Sie steht kurz vor dem Abitur und träumt von einem Studium am Konservatorium in Breslau. Und sie ist in den Gutsbesitzersohn Wolfgang von Brandt verliebt.

Wanda dagegen lebt als Zwangsarbeiterin auf Gut Hohenau. Sie ist schwer einzuschätzen und man erfährt anfangs nur recht wenig über sie. Sie ist eine starke Persönlichkeit, mürrisch und früh gereift durch die negativen Erfahrungen, die sie in ihrem jungen Leben bereits machen musste. Sie vertraut keinem und von Religion hält sie gar nichts. Sie spricht fließend Deutsch, was sie aber verheimlicht. Ihre Herkunft und ihr bisheriges Leben erschließen sich dem Leser erst nach und nach, denn ihre Geschichte wird immer wieder in Rückblenden in die Erzählung eingeflochten.

Ende des Jahres 1944 ändern sich die Zeiten auf Gut Hohenau. Der Zweite Weltkrieg liegt in den letzten Zügen, die deutsche Wehrmacht ist geschlagen und vom Osten rückt unaufhaltsam die Rote Armee heran. Die Deutschen fliehen zu Tausenden vor den Russen und auch die Bewohner von Gut Hohenau müssen ihre Heimat verlassen. Inges Vater wird eingezogen, Inge selbst wird in dem ganzen Durcheinander von ihrer Familie getrennt. Am Ende sind es nur noch Wanda und Inge, die auf Gut Hohenau zurückbleiben.

Auf sich allein gestellt, machen sich die beiden Mädchen notgedrungen gemeinsam auf den Weg. Sie können sich nicht ausstehen und das Misstrauen ist groß. Wanda hält Inge für eine verwöhnte Prinzessin, während Inge Wanda wiederum für einen übellaunigen Bauerntrampel hält. Mit einem Pferdewagen und der notwendigsten Habe brechen sie mitten im Winter auf.  Ihr Ziel ist das 800 km entfernte Dresden, wo Inge Verwandte hat.

Es wird eine lange und beschwerliche Reise voller Gefahren. Hunger, Kälte, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sind ihre ständigen Begleiter. Sie werden bestohlen, betrogen, sie fallen den Russen in die Hände, sie werden getrennt und finden wieder zusammen. Aber es gibt auch Menschen, die ihnen helfen und Inge und Wanda lernen, sich gegenseitig zu vertrauen.

Die Autorin verarbeitet in diesem Buch ein Stück deutscher Geschichte, das man bisher kaum in Romanen findet: Die Flucht und Vertreibung vieler Deutscher gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Es ist eine gelungene Mischung aus historischem Roman, Abenteuergeschichte und Roadmovie. Durch die bildhafte Sprache ist der Leser mittendrin im Geschehen und verfolgt gespannt die beschwerliche Reise der beiden Mädchen. Es ist eine Geschichte, die nachdenklich und betroffen macht und den Leser nicht so schnell wieder loslässt. Es ist kein Buch, das man mal so nebenbei verschlingt. Man muss sich darauf einlassen und wird letztendlich mit einer spannenden und temporeichen Geschichte belohnt. Der Autorin gelingt es, dieses schwierige Thema für junge Leser interessant und mit den richtigen Worten aufzuarbeiten und ihnen ungeschönt das Grauen dieser Zeit zu vermitteln, ohne sie dabei emotional zu überfordern.

Die beiden Mädchen sind gut ausgearbeitete glaubhafte Charaktere mit Stärken und Schwächen. Die Geschichte wird abwechselnd aus der Sicht von Inge und Wanda erzählt, wobei Wanda fast die interessantere der beiden Mädchen ist.

Einziger Wermutstropfen dieses ansonsten sehr guten Romans ist jedoch das abrupte Ende. Man glaubt sich noch mittendrin in der Geschichte, um beim nächsten Umblättern auf einmal an deren Ende angelangt zu sein und man fragt sich, ob dem Buch ein paar Seiten fehlen. Es bleiben so viele Fragen offen und der Geschichte fehlt irgendwie der richtige Abschluss.

Im Anhang des Buches gibt es ein sehr ausführliches Glossar mit vielen zusätzlichen Informationen, des Weiteren ein Interview mit einer Zeitzeugin sowie eine Landkarte, auf der man den Weg von Inge und Wanda verfolgen kann.

FAZIT

Ein spannendes, emotionales und anspruchsvolles Jugendbuch mit zwei sympathischen Heldinnen und eine Geschichte, die ihre Leser von der ersten Seite an gefangen nimmt. Der Autorin ist es wunderbar gelungen, ihren jungen Lesern ein Stück deutscher Geschichte mit Fingerspitzengefühl und Empathie näherzubringen. Das Buch hätte ein echtes Lesehighlight sein können, wenn da nicht dieses verflixte unpassende abrupte Ende gewesen wäre.   

Die verlorenen Schuhe

Gina Mayer, Thienemann

Die verlorenen Schuhe

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