Stein schlägt Papier

Hardcover, 144 Seiten

ISBN: 9783407752758

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Theresa Mürmann
9101

Jugendbuch-Couch Rezension vonOkt 2025

Ein Buch über die enorme Wirkungskraft von Kindheitstraumata

Für die 18-jährige Lee läuft es gerade sehr gut, denn endlich konnte sie von zuhause ausziehen. Sie baut sich ihr eigenes Leben auf. In ihrer kleinen Wohnung fühlt Lee sich sicher, als Assistentin in der Taekwondo-Schule hat ihr Alltag Struktur und für die Ausbildung bei der Polizei fehlen ihr nur noch zwei Prüfungen. Doch dann kommt der Nachmittag, der alles verändern soll. Als ihr zwei Jungen im Park hinterherlaufen, sieht Lee rot und tritt zu. Der ältere von den beiden Brüdern, Metkan, geht bewusstlos zu Boden. Erst im nächsten Moment realisiert sie, dass er ihr nur das verlorene Portemonnaie zurückgeben wollte. Doch es ist zu spät. Metkan wird ins künstliche Koma versetzt und gegen Lee läuft ein Strafverfahren.

Lee wird von Selbstvorwürfen zerfressen. Immer wieder besucht sie Metkan heimlich im Krankenhaus. Bis sie einmal erwischt wird und in Untersuchungshaft landet. Es gibt nur eine Möglichkeit, eine Haftstrafe für Lee zu verhindern: Sie muss nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden und zum Zeitpunkt der Tat trotz ihrer Volljährigkeit nicht als Erwachsene gehandelt haben. Lee selbst will dies auf keinen Fall. Sie möchte nicht als Kind behandelt werden. Sie hat doch alles im Griff. Oder?

„Da bleibe ich lieber im Gefängnis, erklärt Lee.“

Mit seinen gerade mal 144 Seiten wirkt „Stein schlägt Papier“ im ersten Moment vielleicht ein bisschen unscheinbar im Jugendbuchregal. Weit gefehlt, denn diese Geschichte wirkt nach und lässt einen so schnell nicht los. Das liegt in erster Linie an Lee, die man für ihren Mut, ihre Loyalität und ihre ungebrochene Aufrichtigkeit nur bewundern kann. Es braucht gar nicht lange, um mit der Protagonistin warm zu werden, auch wenn in der dritten Person von ihr erzählt wird. Beim Lesen ist ihre Verzweiflung und Reue nach dem verhängnisvollen Tritt vom ersten Moment an zu spüren. In den Gesprächen mit ihrem Anwalt, mit der Sozialarbeiterin Gitte und vor Gericht ist Lee stets ehrlich und hält nichts vom Verdrehen der Tatsachen, nur um eine mildere Strafe zu erhalten. Dass sie all die Last der Selbstvorwürfe und Zukunftssorgen allein schultern muss, ist kaum auszuhalten. So gerne möchte man Lee in den Arm nehmen. Denn das tut niemand. Sie ist die meiste Zeit allein mit sich. Vielleicht würde sie das aber auch gar nicht wollen, denn Nähe und Bindung hat Lee in ihrer Kindheit nie erfahren.

Schon früh ist sie in der Schule aufgefallen, da sie ihre Gefühle, vor allem die Wut, nicht kontrollieren konnte. Immer wieder kam es zu Zwischenfällen mit anderen Mitschülerinnen und Mitschülern. Ihre Rettung war die Taekwondo-Schule und sie ist es noch heute. Großmeister Sung ist Lees Vorbild und Ruhepol. Bei ihm braucht es keine großen Worte. Er vertraut Lee und lässt sie mit dem Taekwondo-Unterricht für die Jüngeren Verantwortung übernehmen. Jeden Tag hilft sie dort aus, der Sport ist ihre Familie. Auch wenn man als Leserin oder Leser bisher keine Berührungspunkte mit Taekwondo hatte, schafft es das Buch, die besondere Atmosphäre der koreanischen Kampfkunst zu vermitteln. Jedes Kapitel ist mit einer Technik, Materialien oder Ausrufen aus dem Taekwondo überschrieben. Nur ein zwei Wörter, die ins Deutsche übersetzt werden und fast schon eine poetische Wirkung haben.

Eine unglaubliche Tiefe, Spannung und Atmosphäre

Von Anfang an fragt man sich, woher die große Wut, die sich seit ihrer Kindheit immer mal wieder Bahn bricht, kommt. Stück für Stück werden Fragmente von Lees Familiengeschichte offenbart. Die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter, die sie selbst nur „Ulrike“ nennt, spitzt sich dabei immer weiter zu. Bis es zum großen Knall kommt, der sich zwar ankündigt, aber einem doch den Boden unter den Füßen wegzieht. Feinfühlig, aber auch nachdrücklich führt das Jugendbuch vor Augen, dass Wut und Gewalt, gerade bei Heranwachsenden, in der Regel einen Grund haben. Nicht selten liegen dahinter eine tiefe Traurigkeit, fehlende Bindungserfahrungen oder andere traumatische Erlebnisse. Dabei geht es hier nicht darum, gewalttätiges Fehlverhalten zu entschuldigen oder kleinzureden. Vielmehr geht es um Verständnis, Empathie und die große Geste des Verzeihens. Metkan hat Lee in dem Moment vergeben, als er aus dem Koma erwacht. Da sind keine Vorwürfe oder Anfeindungen. Er nimmt die Situation, den Vorfall und die gesundheitlichen Folgen so an, wie sie sind. Niemand kann etwas rückgängig machen, aber Metkan spürt, dass Lee das nicht wollte und es ihr unfassbar leidtut.

„Stein schlägt Papier“ ist ein eindringliches Buch über die fließenden Übergänge zwischen der Kindheit, Jugend und dem Erwachsensein. Wenn niemand da ist, der diese Übergänge liebevoll begleitet und einem Kind oder Teenager das Gefühl gibt, wertvoll und richtig zu sein, wie man ist, dann sind die Wunden dieser Zeit ein Leben lang spürbar. Dann ist das innere Kind auch im Erwachsenenalter noch immer traurig und allein.

Fazit

Diese Geschichte berührt, macht wütend und versöhnt auf eine ganz eigene eindringliche Art und Weise. Lee ist eine außergewöhnliche Protagonistin, der man alles Glück dieser Welt wünscht. Eine ganz klare Leseempfehlung.

Stein schlägt Papier

Christina Erbertz, Beltz & Gelberg

Stein schlägt Papier

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