Das falsche Leben
- Gerstenberg
- Erschienen: Juni 2025
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Hardcover, 189 Seiten
ISBN: 9783836963558


Ein Roman, der nachdenklich stimmt
Seit fast 40 Jahren ist die DDR Geschichte und West- und Ostdeutschland sind wieder zu einem Land geworden. Wie stark das DDR-Regime in das Leben seiner Bürger eingriff, ihr Leben steuerte und überwachte ist für Menschen, die im Westen gelebt haben oder später geboren wurden, kaum vorstellbar. Zwar gibt es Filme, in denen das Leben in der DDR im Fokus steht, doch neigen sie nicht selten dazu, den Alltag zu romantisieren oder ins Komödiantische zu ziehen, sodass kaum ein realistisches Bild vermittelt wird. Maja Nielsens Roman „Das falsche Leben“ hingegen will weder lustig sein noch idealisieren. Im Fokus steht die reale Geschichte Thomas Raufeisens, der mit seiner Familie in die DDR flüchtete, nachdem die Tätigkeit seines Vaters als Spion für die DDR aufflog.
Unerreichbare Heimat
Thomas ist 16. Mit seinen Eltern und seinem etwas älteren Bruder lebt er in Hannover und besucht dort die 11. Klasse des Gymnasiums. Auch die anderen Familienmitglieder führen ein geregeltes Leben. Micha, sein Bruder, besucht die Berufsschule, hat eine feste Freundin und ist mit seinem Leben zufrieden. Seine Mutter kümmert sich um den Haushalt, während sein Vater für die Preussag arbeitet und der Familie ein gutes Leben mit Urlaub in Italien ermöglichen kann. Auch wenn ihre Wurzeln in der DDR liegen und dort ihre Großeltern leben, die sie durch den großen Aufwand, der mit der Einreise in die DDR verbunden ist, nur selten sehen, fühlen sich Thomas und Micha fest mit dem Westen und Hannover verbunden. Dort sind sie geboren und aufgewachsen, die DDR kennen sie nur von ihren Besuchen bei den Großeltern, Erzählungen der Eltern oder aus dem Fernsehen.
Als ihr Vater eines Tages im Winter 1979 viel früher und völlig unerwartet von der Arbeit nach Hause kommt und ihnen sagt, dass sie sofort packen müssen, rechnen die beiden Jungen nicht damit, dass sich ihr Leben ab diesem Tag vollkommen verändern wird. Bis zur Ankunft in der DDR gehen sie davon aus, dass sich der Gesundheitszustand ihres an Krebs erkrankten Opas drastisch verschlechtert haben muss und sie deshalb so überstürzt aufbrechen. Dass es eine Ausreise ohne Rückkehrdatum ist, ahnen sie nicht. Zwar wundern sie sich, dass die Einreise in die DDR dieses Mal so unkompliziert ist, dennoch fallen sie aus allen Wolken, als ihr Vater ihnen gesteht ein DDR-Spion zu sein, der von einem Überläufer verraten wurde. Durch seine Flucht in die DDR hofft er, einer Haftstrafe durch die BRD zu entkommen und in seiner alten Heimat ein neues Leben beginnen zu können.
Thomas und Micha sind mehr als entsetzt, als ihnen klar wird, dass sie ihr Leben, so wie sie es kannten, nicht wiederbekommen werden, denn eine Rückreise in die BRD ist für sie von nun an nicht mehr möglich. Kann Micha seinem Vater den Verrat an der Familie und seine Lügen nicht verzeihen und verweigert jegliche Zusammenarbeit mit den Behörden der DDR, versucht Thomas sich in seinen neuen Alltag hineinzufinden, was ihm zunehmend schwerer fällt, je mehr ihm die ständige Überwachung und Kontrolle durch die Stasi bewusst wird. Auch bei ihrem Vater, der einst ein überzeugter DDR-Bürger war, wachsen die Zweifel und er beginnt mit ihnen gemeinsam die Flucht zurück in die BRD zu planen. Doch nicht nur die Flucht selbst ist lebensgefährlich, schon das Planen kann hohe Haftstrafen oder auch die Todesstrafe zur Folge haben. Wird es der Familie gelingen, in ihre alte Heimat zurückzukehren?
Geschichte zum Miterleben
Maja Nielsen nimmt einen mit in das Jahr 1979, in die Zeit des geteilten Deutschlands. Zwar ist seit bald 40 Jahren die Einheit wieder hergestellt, doch ist die Trennung in Ost und West noch immer nicht zu 100% überwunden und lässt sich in verschiedenen Bereichen noch immer spüren. Wie groß die Unterschiede damals wirklich waren, lässt sich für später geborene oder im Westen Deutschlands aufgewachsene Menschen kaum nachvollziehen, da die politische Idee und Umsetzung des sozialistischen Staats mit den Grundzügen einer Volksrepublik sich stark auf den Alltag der Menschen auswirkte. Wie gravierend der Staat selbst ins private Leben eingriff, kann sich hierzulande heute kaum noch jemand vorstellen.
Die Geschichte Thomas Raufeisens lässt einen hautnah miterleben, welches Ausmaß die Überwachung und Kontrolle der DDR hatte. Die Wohnung war mit Wanzen ausgestattet, immer wieder kam es zu „Besuch“ von Willy und Jürgen, die sich im Auftrag der DDR um sie „kümmerten“, ihnen bei der Einreise halfen und Wohnung, Schulplatz und Ausbildungsstätte zuwiesen. Mitspracherecht? Fehlanzeige. Selbst Untersuchungen beim Arzt wurden ihnen vorgeschrieben, begleitet von den Worten: „Im Westen ist die medizinische Versorgung sehr viel schlechter als hier. Eure Eltern und ihr wart dem System 22 Jahre ausgeliefert. Wer weiß, was ihr für Keime mitbringt. Lasst euch untersuchen. Es ist nur zu eurem Besten.“ Dass die medizinische Technik dann wie aus einer längst vergangenen Zeit wirkte und die Untersuchung lediglich aus Blutdruck messen, abhorchen und Blutabnahme bestand, ist selbsterklärend.
Dass die ständige Überwachung auch durch vermeintliche Freunde, sogenannte „Kundschafter des Friedens“, geschehen konnte, wird Thomas nach kurzer Zeit klar, als sich ein Mädchen mit ihm anfreunden möchte und scheinbar gleiche Interessen mit ihm teilt, die so überraschend sind, dass sie kein Zufall mehr sein können. Schnell lernt er, seinen Mitmenschen mit ständigem Misstrauen zu begegnen. Besonders die familiären Fluchtpläne dürfen auf keinen Fall nach außen dringen, nicht einmal die Großeltern dürfen eingeweiht werden, um sie nicht auch in Gefahr zu bringen.
Dadurch, dass die Autorin ihren Roman aus Thomas Perspektive erzählt, fällt es nicht schwer, sich in die Geschichte hineinzufinden, die in 36 kurze Kapitel eingeteilt ist. Für Begriffe, die eng mit der DDR verknüpft sind und vielen heute nichts mehr sagen, gibt es am Ende des Buches einen ausführlichen Abschnitt, in dem beispielsweise erklärt wird, dass es sich bei „Aktuelle Kamera“ um die Hauptnachrichtensendung des DDR-Fernsehens handelte, deren Berichterstattung nicht nur sehr einseitig die Erfolge der DDR in den Mittelpunkt stellte, sondern in der auch jegliche systemkritische Berichterstattung unmöglich war.
Interessant ist auch der Bereich „Über die Personen in diesem Buch“, in dem noch einmal kurz auf die einzelnen Mitglieder der Familie Raufeisen eingegangen und erzählt wird, wie ihr Leben nach dem Zeitpunkt, an dem das Buch endet, weiterging. Auch über den Überläufer Werner Stiller, der Armin Raufeisen 1979 verriet, werden ein paar Worte verloren, die einen Eindruck hinterlassen, um was für einen Menschen es sich bei ihm gehandelt haben muss.
Fazit
Ein Roman, der nachdenklich stimmt und einen Teil deutscher Geschichte, der sonst leider oft zu kurz kommt, in den Mittelpunkt rückt. Da anders als im Schulunterricht der Fokus nicht auf Politik sondern vor allem auf das persönliche Leben der Menschen am Beispiel des Schicksals von Thomas Raufeisen gerichtet ist, bleibt die Zeit der DDR mit ihrer Überwachung und Kontrolle hier noch einmal ganz anders im Gedächtnis und es wird einem noch einmal bewusst, wie wertvoll Demokratie und persönliche Freiheit sind.

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