Wanda

übersetzt von Dana Lédl; Hardcover, 363 Seiten

ISBN: 9783522186896

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Theresa Mürmann
9101

Jugendbuch-Couch Rezension vonJun 2025

Dieses Jugendbuch macht vor allem eines: Hoffnung

Der Moment, in dem Adam und Sophie ihr mitteilen, dass sie sich das mit dem Pflegekind anders vorgestellt haben, lässt in Wanda endgültig etwas zerbrechen: die Hoffnung auf eine Familie. Warum sollte sie nun wieder zurück ins Heim? Mit jedem Tag, jedem Lebensjahr schwindet die Hoffnung, dass sie noch „vermittelt“ werden kann. Die Leute wollen Kinder, keinen unberechenbaren, fast dreizehnjährigen Teenie. Kurzerhand packt Wanda das Nötigste zusammen und bricht aus dem ewigen Kreislauf zwischen Heimaufenthalten und diversen Pflegefamilien aus. Ziellos schlendert sie durch die Großstadt, bis sie an einer Hausruine ankommt, die Sicherheit verspricht.

Anfangs noch vollkommen allein, bis auf ihren Gorilla Schrippe, trifft Wanda auf Menschen, denen es ähnlich geht. Sami, der große Angst vor etwas hat, oder Jo, der von einer ganz anderen Zukunft träumt. Die ältere Dame Dora, die noch in der Vergangenheit festhängt, oder Peri, die endlich gesehen werden möchte. Sie alle haben Wünsche, Hoffnungen und Träume, die bislang nicht in Erfüllung gegangen sind. Immer wieder kreuzen sich ihre Wege. Zwischen all den Menschenmassen und der Hektik des Alltags ist auch jemand anderes unterwegs: eine Bärin. Sie hält die ganze Stadt in Atem. Und als es heißt, dass Hinweise mit der Erfüllung eines Wunsches belohnt werden, haben Wanda und ihre neuen Freunde ein gemeinsames Ziel.

„Wenn man rechtzeitig die Nase hochzieht, drückt man die Tränen wieder rein.“

Poetisch, berührend und ein bisschen skurril - so könnte man Wandas Geschichte in ein paar Worten zusammenfassen. Wobei ein so kurzer Umriss diesem Jugendbuch gar nicht gerecht wird. Ganz zart und vorsichtig werden Handlungsfäden aufgegriffen, miteinander verwoben und Figuren ins Licht gerückt, die sonst niemand beachtet.

Nach und nach wird einem beim Lesen klar, dass es sich beim Setting der Handlung um Berlin und die Umgebung rund um das Brandenburger Tor handeln muss. Immer wieder ist vom „Tor“ mit seinen Säulen, der Prachtstraße „unter den Linden“ und einem Hotel namens „Avalon“ die Rede. Wandas „Raum der Stille“, das Torhaus, befindet sich also direkt inmitten eines absoluten Touri-Hotspots. Diesen Raum gibt es übrigens tatsächlich am Brandenburger Tor. Wandas Zuflucht ist allerdings sehr baufällig, in der unteren Etage klafft sogar ein riesiges Loch im Boden.

Doch egal wie kaputt und dreckig ihre neue Bleibe auch ist: Wanda sieht in allem, selbst in den kleinsten Kleinigkeiten das Besondere. Ihre Eltern sind gestorben, als sie klein war, und die Frage, ob sie in ihrem Leben jemals geliebt wurde, belastet sie sehr. Als Heimkind, das keine Pflegefamilie haben möchte, hatte sie noch nie das Gefühl von Zuhause und Familie erlebt. Zwischen den Zeilen kann man nur erahnen, dass Wanda auch psychische und körperliche Gewalt erfahren haben muss. Gerade im ersten Drittel des Buches stimmt ihre Geschichte vor allem traurig. Allein wandert sie durch die Stadt, auf der Suche nach etwas zu Essen und einem Schlafplatz. Die Atmosphäre wirkt dunkel, traurig und bedrückend. Doch mit jeder Begegnung, jedem neuen Freund, jeder neuen Bekanntschaft erlangt Wanda ein Stück mehr Optimismus, werden die Farben heller und ein Gefühl von Hoffnung macht sich breit.

Neben Wandas Geschichte geht es vor allem um den Jungen Sami, der sie in ihrem größten Hunger mit einer Pommes versorgt. Auch ihn scheint etwas sehr zu belasten. Nach und nach erfährt man von seiner Fluchtgeschichte und der drohenden Abschiebung der ganzen Familie. In ihrer grenzenlosen Empathie verschreibt sich Wanda dem Ziel, dies zu verhindern. Samit soll bleiben, doch dafür müssen sie die Bärin finden, damit der Wunsch in Erfüllung geht.

Wie wäre es, wenn der größte Wunsch in Erfüllung ginge?

Tatsächlich lebten von 1939 bis 2015 Bären mitten in Berlin in einem kleinen Zwinger im Köllnischen Park. Die Vorstellung, dass eine Bärin ausbricht und sich im Getümmel der Großstadt versteckt, ist daher gar nicht mal so weit hergeholt. In „Wanda“ ist die ganze Bevölkerung vollkommen aufgebracht: Zwischen Angst, Verunsicherung und Entschlossenheit, das Tier zu finden, ist alles dabei. Als die Stadtoberen verkünden, dass Hinweise auf den Aufenthaltsort mit der Erfüllung eines Wunsches belohnt werden, sind die Menschen ganz aus dem Häuschen. Die Wünsche aller liegen seitdem in der Luft, werden hinausgerufen oder leise verraten.

Der Roman führt einmal mehr vor Augen, dass jeder und jede seine eigene Lebensgeschichte hat. Die Startvoraussetzungen, das Umfeld, die Herkunft - all das sind entscheidende Faktoren für die Zukunftschancen und die Rolle in der Gesellschaft. Und so unterscheiden sich auch die Wünsche der Bärensucherinnen und -sucher. Für manche sind es nur Sahnehäubchen, da sie sowieso schon alles haben, für andere essenzielle Bedürfnisse: eine Familie, ein sicheres Land zum Leben, eine hoffnungsvolle Zukunft. Die Geschichte schafft es, diese Ungerechtigkeiten klar zu benennen, allerdings ohne den erhobenen Zeigefinger.

Die gefühlvolle und bildhafte Sprache sorgt beim Lesen immer wieder für Momente des Innehaltens. Mit Wandas Blick auf die Welt werden unbedeutende Gegenstände lebendig, Altes mit neuem Leben erfüllt und bewusst die Menschen beachtet, die sonst gar nicht gewürdigt werden. Möglicherweise könnte für jüngere Leserinnen und Leser der bewusst schmale Grat zwischen der Realität, ein bisschen Fantasie und Skurrilität schwer zu erfassen und interpretieren sein. Aber unbestreitbar bleibt: Es ist eine berührende Geschichte, die vor wichtigen Botschaften nur so erstrahlt.

Fazit

Die Message ist klar: Nicht unterkriegen lassen, denn du bist genau so richtig, wie du bist. Und du hast es verdient, glücklich zu sein. Ein zutiefst hoffnungsvoller Jugendroman.

Wanda

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