Ganz aus Splittern

Broschur, 315 Seiten

ISBN: 9783522203067

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Theresa Mürmann
8101

Jugendbuch-Couch Rezension vonMai 2025

Ein überraschend tiefgründiger und mitreißender Young-Adult-Titel

Christine, Chrissy, wohnt mit ihrer Mutter und ihrem gewalttätigen Stiefvater in einem sogenannten „Problemviertel“. Margarinetoast mit Zucker steht ganz oben auf dem Speiseplan. Ihre Mutter hat an Chrissy kaum Interesse, das war schon immer so. Unzufrieden mit ihrem Leben ist diese entweder betrunken oder zugedröhnt mit Tabletten. Was sie an Marcel, der im großen Stil mit Drogen dealt, findet, kann Chrissy nicht verstehen. Für sie ist ihr Stiefvater ein Monster - die Narben auf ihrem Rücken werden sie auf ewig an ihn erinnern. Ohne ihren besten Freund Tjard, einfach nur „T“, wäre Chrissy aufgeschmissen. Sie liebt ihn über alles, allerdings nur platonisch. T ist ihre Zuflucht, ihr Zuhause und derjenige, der sie in der Vergangenheit immer wieder zusammengesetzt hat, wenn das Leben sie zu brechen schien.

Für Chrissy steht fest: Sie will Abi machen, ihr Leben selbst in die Hand nehmen und nicht so enden, wie ihre Mutter. In der Schule ist sie mit Abstand die Beste. Und dann, eines Tages, wird ihr eine rosige Zukunft quasi auf dem Silbertablett präsentiert: Chrissy soll an einem Austauschprogramm teilnehmen. Eine Studie, mithilfe derer herausgefunden werden soll, inwiefern sich eine Veränderung im Umfeld auf das Lernverhalten und die berufliche sowie soziale Entwicklung auswirkt. Chrissy darf ihr Abitur am renommierten Heinrich-Heine-Gymnasium absolvieren. Zunächst ist sie empört und lehnt das Angebot ab: Sie ist doch kein Versuchskaninchen. Doch nach und nach merkt sie, dass es die Möglichkeit ist, ihrer Vergangenheit den Rücken zu kehren und endlich nach vorne zu blicken…

„Die gesprungene Glastür des schmutzigen, gelben Mehrfamilienhauses, in dem ich wohne, fällt hinter mir zu, und endlich bekomme ich Luft.“

Zugegeben: Der Anblick des Covers hat nicht allzu große Erwartungen in mir geweckt. Ein weiterer Liebeschmöker unter vielen? Weit gefehlt: Ein tiefgründiges, ungemein bewegendes Sozialdrama versteckt sich in diesen Buchseiten. Mit gerade einmal 19 Jahren legt die junge Autorin Danae Lake einen wirklich beeindruckenden Jugendroman vor, der unter die Haut geht. Die Figuren sind allesamt grandios gezeichnet. Besonders Chrissy und T strahlen so viel Wärme und Sympathie aus, dass man sie am Ende gar nicht mehr ziehen lassen möchte. Für Chrissy ist ihr bester Freund wie ein Fels in der Brandung. Der tätowierte Bad Boy, mit dem sie sich gerne zum Boxen verabredet - klischeehafter könnte T gar nicht erscheinen. Doch der Eindruck täuscht: Hinter ihm verbirgt sich ein zutiefst loyaler, authentischer und auf entsetzliche Weise gebrochener junger Mann.

Traumata und verstörende Erlebnisse lassen auch die Protagonistin nicht los. Chrissys Geschichte ist schwer zu ertragen: Für ihre Mutter war und ist sie offenbar nur eine Last, ihren Vater hat sie nie kennengelernt, die Wohnung ist dreckig und schimmelig und ihr Stiefvater hat ihr mehr als einmal wehgetan. Wie sehr, das zeigt sich erst im Laufe der Handlung. Bezeichnend ist, dass Chrissy immer nur vom „gelbem Mehrfamilienhaus“ spricht, wenn sie über ihr Zuhause redet. Größer könnte die emotionale Distanz kaum sein.

Keine Sorge, die etwas zu einfache „Rettung“ der Situation durch einen spontanen Schulwechsel ist kein konstruierter Plot-Twist, kein Eintritt in ein ab sofort buntes, schillerndes und heiteres Leben. Die Probleme kommen mit und Chrissy realisiert, dass hinter dem dubiosen Austauschprogramm viel mehr steckt. Allerdings gibt es einen besonderen Lichtblick am Heinrich-Heine-Gymnasium: Alex, der aus einer ganz anderen Lebenswelt kommt. Reiches Elternhaus, eigene Wohnung, schickes Auto. Auch wenn Chrissy es nicht zugeben will: Es ist Liebe auf den ersten Blick, von beiden Seiten. Schon nach ein paar Tagen heftigen Knisterns, sind Alex und Chrissy ein Paar. Sehr zum Missfallen von Tjard. Nun könnte man von machohaftem Beschützerinstinkt sprechen, doch der Roman nimmt genau diese klischeehaften Verhaltensweisen, auch an anderen Stellen, genau unter die Lupe.

„Ich habe vorhin nicht ganz die Wahrheit gesagt. Der kaputte Glastisch im Esszimmer, das war ich. Mein Rücken. Aber es waren Marcels Hände, die mich gestoßen haben.“

Manchmal fühlt es sich beim Lesen so an, als würde ein großes Pflaster ganz langsam, Stück für Stück von einer tiefen Wunde abgerissen werden. Irgendwann ist es ab und das Ausmaß der Verletzung ist sichtbar. Chrissy musste in der Vergangenheit so viele Schmerzen ertragen. Sie versucht sie zu verdrängen, sich voll und ganz auf Alex einzulassen, doch da ist immer wieder diese Stimme in ihr, die ruft: Nein! Das Offensichtliche nimmt immer mehr Gestalt an: Chrissy wurde sexuell missbraucht. Trotz all der anderen „Baustellen“ schafft es der Roman, das Thema Vergewaltigung mit der notwendigen Feinfühligkeit zu behandeln. Die Verarbeitung des Erlebten geschieht meines Erachtens jedoch etwas zu schnell. Auch in Bezug auf andere Handlungsstränge wird im letzten Drittel nochmal ordentlich Gas gegeben, teilweise zu Lasten der Glaubwürdigkeit.

Zu rasant entwickelt sich auch die Liebesbeziehung zwischen Chrissy und Alex. Gerade Letzterer wirkt trotz aller Sympathiepunkte, die er im Laufe der Handlung sammelt, etwas blass, da man kaum etwas über seinen Charakter erfährt. Einmal angefangen, kann man das Buch jedoch kaum noch aus der Hand legen. Der Schreibstil ist mitreißend, spannend und absolut ehrlich. Trotz der bisweilen bedrückenden und traurigen Atmosphäre fehlt es nicht an einer Prise Humor und lustig-skurrilen Situationen. Eine klare Leseempfehlung!

Fazit

Dieser Jugendroman schafft es, zwei vollkommen unterschiedliche Lebenswelten geschickt miteinander zu verweben. Eine Geschichte, die einen nicht so schnell wieder loslässt.

Ganz aus Splittern

Danae Lake, Thienemann

Ganz aus Splittern

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