Zweiklang

  • Arctis
  • Erschienen: Februar 2025
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übersetzt von Meike Blatzheim und Sarah Onkels; Hardcover, 320 Seiten

ISBN: 9783038800989

Zweiklang
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Theresa Mürmann
9101

Jugendbuch-Couch Rezension vonMär 2025

Eine Geschichte über die Narben der Vergangenheit, die Liebe zur Musik und zu sich selbst

Das Internat in der Stadt war für Torleif seine Rettung, eine Ausflucht in eine andere Welt. Denn in dem kleinen norwegischen Heimatdorf hat er sich nie zuhause gefühlt. Wie auch? Seine Queerness musste er hier verstecken und mit der Begeisterung für die Elchjagd konnte Torleif sich nie identifizieren. Allein die Musik und sein Großvater, Goffa, waren seine Zuflucht. Und natürlich seine Mama - bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren. Niemals wollte Torleif zurückkehren, doch dann kommt ein Anruf, den er nicht ignorieren kann.

Goffa hatte einen Schlaganfall und Torleifs Vater bittet ihn, für die Herbstferien zu kommen, um sich um seinen Großvater zu kümmern. Mit gemischten Gefühlen kehrt Torleif in sein altes Leben zurück. Auf der einen Seite merkt er, wie sehr er Goffa, dessen Geigenbauwerkstatt und die Natur vermisst hat. Auf der anderen Seite reißen ihn die Begegnungen mit alten Bekannten sowie die Gespräche mit seinem Vater und seinem Bruder Tallak in einen Strudel aus verdrängter Verzweiflung und Unsicherheit. Wie sollten sie ihn jemals so akzeptieren wie er ist? Was würden sie zu seinem Outing sagen? Und dann trifft er auf Horimyo, einen japanischen Gastdozenten der dortigen Akademie…

„Kaum zu glauben, dass es Leute auf dieser Welt gibt, die sich lieber eine Büchse an die Schulter legen als eine Hardangerfiedel.“

Selten höre ich mir bei einem Buch tatsächlich die zugehörige Playlist an, doch in diesem Fall ist es quasi ein Muss. Denn Torleifs Geschichte hat eine besondere Hauptfigur: die Hardangerfiedel, eine traditionelle Geige aus Norwegen. Sobald Torleif anfängt zu spielen, hat er alles andere um sich herum vergessen. Die Liebe zur Hardangerfiedel kommt von Goffas Seite der Familie. Unzählige Stunden hat Torleif als Kind in dessen Fiedelwerkstatt verbracht. Von der ersten Begegnung der beiden an ist zu spüren, dass Enkel und Großvater eine innige Beziehung haben. Sie verstehen einander. Wahrscheinlich weiß Goffa schon seit einiger Zeit von Torleifs Homosexualität, ohne ihn jedoch darauf anzusprechen. Gewisse Themen werden im Dorf gemieden.

Beim Lesen ist gerade diese Sprachlosigkeit enorm zu spüren. Torleif hat in seiner Kindheit gelernt, seine Gefühle weitestgehend zu unterdrücken. Insbesondere die Trauer um seine Mutter wurde kollektiv verdrängt. Ebenso wie ein anderes Kapitel in Torleifs Leben, um das einen großen Bogen gemacht wird. Zu seinem abweisenden und schroffen Bruder Tallak hat er eigentlich gar keine Verbindung, denn unterschiedlicher könnten Geschwister kaum sein. Es fällt teilweise schwer, die Fäden der Familienmitglieder zusammenzubringen: Empathie, Feinfühligkeit und Weltoffenheit auf Seiten von Goffa und Torleifs Mutter einerseits, Rauheit, Distanz und Skepsis gegenüber Unbekanntem bei dessen Vater und Tallak andererseits. Gegensätze sind überhaupt gewollt: Der Unterschied Stadt-Land wird durch die Figurenzeichnung und Sprache klar pointiert.

„Aufm Scheunenboden, murmelt Vater. Auf dem Scheunenboden, wiederhole ich.“

Der Schreibstil dieses Jugendromans hat ganz feine Konturen und Akzente, er lässt fühlen und mitfühlen. Bildlich und poetisch, aber wunderbar authentisch und eingängig. Mit jedem Kapitel fühlt man sich Torleif ein Stück weit näher. Die Wechsel im Setting sind gewissermaßen ein Spiegel seiner Gefühlswelt, gleichermaßen Teil eines Prozesses: In der Stadt fühlt sich Torleif vor allem aufgrund seiner Homosexualität frei und akzeptiert. Rada und Kim, seine besten Freunde, geben ihm enormen Halt, bauen Torleif immer wieder auf und ermutigen ihn zu mehr Selbstbewusstsein. Dennoch merkt er zunehmend, dass er die letzten zwei Jahre mehr verdrängt als verarbeitet hat. Nach den Herbstferien merkt er im Internat, dass nichts ist wie vorher. Es geht ihm körperlich und psychisch schlecht, denn die Vergangenheit holt ihn wieder ein.

Es gibt einen wesentlichen Kritikpunkt an diesem Roman: Die Fülle an Themen ist schon fast zu viel. Vor allem die Liebesgeschichte zwischen Torleif und Horimyo gerät zwischendurch immer wieder ins Hintertreffen. De facto begegnen sich die beiden sehr selten, sodass Horimyos Charakter nicht die Chance hat, wirklich Kontur anzunehmen. Es wird von „Liebe“ gesprochen, aber diese ist nicht wirklich zu spüren. Auch das Ende hätte im Einklang zur vorangegangenen Handlung meiner Meinung nach etwas mehr Tiefe und Unperfektes vertragen können. Ob es den Themenkomplex „Suizid“ zusätzlich gebraucht hätte, bleibt ebenfalls zu hinterfragen. Diesem fehlt es leider an dem nötigen Raum zur Auseinandersetzung. Die Geschichte bietet auch so schon viele Anreize zum Nachdenken.

Fazit

Ein überzeugender Coming-of-Age-Roman, der einen von der ersten bis zur letzten Seite einfängt. Auch absolut unmusikalische Leserinnen und Leser können die Melodie der Worte spüren.

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