Absolut einmalig - endlich wieder ein Nischentitel
Sommer, Sonne, lange Strandtage - Freya freut sich mit ihren Freundinnen schon seit Monaten auf das Hockey-Camp in Portugal. Doch der Traum zerplatzt jäh, als ihre Colitis Ulcerosa dafür sorgt, dass Freyas Dickdarm rausgeschnitten werden muss und sie fortan einen Beutel auf dem Bauch trägt. Das Leben dreht sich plötzlich um 180 Grad: Freyas On-Off-Boyfriend Lockie scheint sich vor ihr zu ekeln, an der Schule hat sie mit „Shit Bag“ einen fiesen Spitznamen und zur Krönung der Misere stecken ihre Eltern sie auch noch in ein Camp für Kinder und Jugendliche mit Darmerkrankungen. Welch’ glorreiche Ferien ihr bevorstehen!
Kein Wunder, dass Freya den Camp-Teilnehmenden ihre Ablehnung gleich von Anfang an offen zeigt. Nur leider sind die meisten von ihnen total nett, allen voran Chris, der im Gegensatz zu ihr selbst seine dauerhafte „Wärmflasche“ akzeptiert zu haben scheint. Wie kann man so sympathisch und gutaussehend sein, dazu aber einen Beutel auf dem Bauch tragen? Kann das Leben trotz künstlichem Darmausgang irgendwann wieder normal werden? Was ist eigentlich „normal“?
Wenn der eigene Körper zum Feind wird
Was man wohl sicher behaupten kann: Dieser Titel ist schon allein vom Thema her ein absolutes Ausnahmetalent. Seit ein paar Jahren stehen vor allem psychische Erkrankungen im Fokus zahlreicher Neuerscheinungen. Ein wichtiger Prozess, bei dem jede weitere Neuerscheinung dazu beiträgt, Stigmatisierungen entgegenzuwirken. Doch auch bei körperlichen Erkrankungen wie Freyas gilt es, Aufklärungsarbeit zu leisten. Geschichten und ihre Figuren geben betroffenen Leserinnen und Lesern die Möglichkeit der Identifikation. Es braucht starke Vorbilder, die Mut, Hoffnung und positive Energie vermitteln. Wie großartig, dass der vorliegende Titel genau dies brillant umsetzt.
Hand aufs Herz: Vielleicht hat man irgendwann schon mal von Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa gehört, aber was sich dahinter verbirgt und welche Auswirkungen diese Krankheitsbilder auf die Patientinnen und Patienten haben, ist vermutlich eher unbekannt. Bei Freya hat die chronisch-entzündliche Darmerkrankung Colitis Ulcerosa dazu geführt, dass ihre Bauchmuskeln aufgeschnitten und ihr Dickdarm entfernt werden mussten. Nun gehört ihr Stoma, die am Bauch sichtbare Darmöffnung, und ein entsprechender Beutel für den Stuhl zu ihrem Alltag dazu.
Bei „Shit Bag“ handelt es sich um eine Own-Voice-Story, da die in London und Schottland lebende Autorin Xena Knox selbst weiß, wie es ist, als junger Mensch den fordernden Spagat zwischen Krankenhausaufenthalten, Beutelwechsel und Stomatherapie sowie Studium, Dating und „normalem“ Leben zu schaffen. Wahrscheinlich ist Freyas Geschichte auch deshalb so wunderbar authentisch, sensibel und ehrlich geraten. Egal ob die Wut auf den Beutel, den anfänglichen Ekel vor ihrem Stoma, die Trauer um den verpassten Portugal-Aufenthalt oder die Erkenntnis, dass ihr Leben von nun an vollkommen anders sein wird als das ihrer gleichaltrigen Freundinnen und Freunde. Man nimmt ihr alles ab.
Camps sind ein beliebtes Setting zahlreicher Jugendromane. Eine gute Gelegenheit, möglichst viele unbekannte, aber durch ein Merkmal miteinander verbundene Figuren zusammenzubringen. In diesem Fall ist es ein Camp für Kinder und Jugendliche mit Darmerkrankungen irgendwo in Schottland. Es ist nur eine Woche, aber für Freya fühlt es sich an wie der Beginn eines neuen Lebens. Eine Reise zu sich selbst, auf der sie vor allem mit ihrer verzerrten Körperwahrnehmung und mangelnden Selbstliebe konfrontiert wird.
„In der Schule. Da versteht mich keiner. Und sie werden es auch nicht versuchen. Und mich trotzdem Shit Bag nennen. Und mit welchem Recht? Nur weil sie das Privileg haben, ganz normal aufs Klo zu gehen?!“
Schule kann so grausam sein, das erfährt Freya nicht nur einmal am eigenen Leib. Als wären ihre wirklich nicht ungefährliche Darmerkrankung und deren Folgen nicht schon genug, wird sie von vielen Mitschülerinnen und Mitschülern mit dem Spitznamen „Shit Bag“ und fiesen Memes gemobbt. Dann ist da auch noch ihr Ex-Freund Lockie, der sich nicht nur vor Stoma und Beutel ekelt, sondern kurzerhand etwas mit Freyas Freundin Suriya anfängt. Der Verrat lastet unheimlich schwer auf ihr. Und obwohl die Zweifel, die Angst und der Schmerz sie an einigen Tagen aufzufressen drohen und sie das Leben nicht selten zum Kotzen (im wahrsten Sinne des Wortes) findet, steht Freya immer wieder auf.
Ganz zart und leise schleicht sich Chris in ihr Herz. Er ist Freyas Stütze, ihr Anker in allen Gefühlslagen, obwohl Chris durch seine Morbus-Crohn-Schübe selbst ein ganzes Bündel an Einschränkungen zu tragen hat. Sein Beutel wird ihn sein Leben lang begleiten. Durch die Liebesgeschichte, ein bisschen Dreiecks-Durcheinander und verloren gegangene Freundschaften wird die Story abseits aller Krankheitsbilder zu einem unterhaltsamen Coming-of-Age-Roman. Die Sprache strotzt nur so vor Witz, Ironie und jugendlicher Direktheit. Ein wunderbar unterhaltsamer Lesestoff, der aber immer wieder die Kurve zu einem ernsthaften und sensiblen Umgang mit dem Thema schafft. Darüber hinaus wird erstaunlich viel Hintergrundwissen vermittelt. Absolute Leseempfehlung.
Fazit
Wie schön, dass immer wieder Bücher abseits des Mainstreams erscheinen und inhaltliche Lücken des Genres füllen. Freyas Geschichte gibt so vielen betroffenen jungen Menschen ein Gesicht.
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