RETRO - Geh nicht online
- Fischer Sauerländer
- Erschienen: März 2024
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übersetzt von Andreas Helweg und Pauline Kurbasik; Broschur, 480 Seiten
ISBN: 9783737372749


Ein wichtiges Thema - bevor es ins Fantastische abdriftet
Luna Maria Valero Iglesias wird eigentlich nur so genannt, wenn ihre Mama so richtig sauer auf sie ist. Sonst wird sie schlicht und ergreifend nur von allen "Luna" gerufen. Aber ihre Mama hätte jetzt Grund dazu, stinkig zu sein. Denn Luna wird beschuldigt, in einer großen Mall geklaut zu haben und nicht nur ein paar Bonbons, sondern ein Smartphone, eine Smartwatch und eine Designer-Sonnenbrille. Alles, was ein Mädchen so braucht - könnte man sagen. Dennoch ist Luna keine Diebin - sie ist hereingelegt und im Stich gelassen worden und das von einer ihrer besten Freundinnen! Wenn jemandem so etwas passiert, dann ist diejenige natürlich so richtig sauer und so ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass Luna auf Rache sinnt. Deswegen postet sie ein Video, in dem sich diese Verräter-Freundin in einem ganz schlechten Licht präsentiert. Es kommt, wie es kommen muss: der Post geht viral und zieht eine Katastrophe nach sich, die Luna so nie gewollt hatte. Offensichtlich bestürzt das aber auch die allumfassende Internetbetreiberin "Limbo", die von den Vorgängen auf ihren Seiten erfährt. Deswegen schickt sie die bekanntesten Gesichter ihrer Seite zu Lunas Schule, um dort eine spezielle Challenge ins Leben zu rufen. Wer sich an ihr beteiligt, der soll ein Jahr auf sein Smartphone und das Internet verzichten. Im Gegenzug erhält jeder, der dieses Jahr durchhält ein Vollstipendium für ein College seiner Wahl. Gelockt von dieser Belohnung, melden sich einige, die an diesem Versuch teilnehmen wollen. Anfangs fürchten alle, dass sie dann als Langweiler verpönt werden, aber es passiert Überraschendes: Ihr neuer Lifestyle abseits vom Internet wird als besonderer "Retro-Style" gehypt und sorgt dafür, dass sie alsbald zu regelrechten Stars mutieren. Aber dann häufen sich eigenartige Vorgänge und langsam fragen sich alle, ob sie in der schönen, alten Welt eigentlich noch sicher sind - oder lieber schleunigst in die nicht-ganz-so-schöne, aber dafür sicherere neue Welt zurückkehren sollten.
Sie stellen sogar Elon Musk in den Schatten...
Luna stellt sich dem Leser/der Leserin unvermittelt vor: Sie steht da im zerrissenen Discoglitzerkleid in einem sterilen Raum und offensichtlich ist viel passiert. Was genau erfährt der Leser im rasanten Tempo: Luna wurde Opfer einer miesen Intrige und hat das gemacht, was recht natürlich ist: Sie hat sich gerächt. Hier zeigt sich aber auch schnell, wie Konsequenzen eintreten können, die eigentlich niemand wollte. Ein Video, das eine Freundin in einem schlechten Licht präsentiert, geht viral und plötzlich scheint jeder sie zu hassen. Jetzt kann das Post auch nicht mehr zurückgezogen werden, hat es doch schon eine regelrechte Lawine losgetreten und die Ereignisse überschlagen sich. Das Autorenduo Shusterman und Lapuente schildert hier eindringlich und glaubhaft, wie das Internet und die "sozialen" Medien sich plötzlich regelrecht selbständig machen, alles übernehmen und sogar Leben zerstören können.
Diese Schilderungen waren für mich der beste Teil des Buches, denn bis hierhin hatte ich das Gefühl, es mit mehr oder weniger "normalen" und realen Jugendlichen zu tun zu haben. Insbesondere die Darstellung der Luna mit ihren flotten Sprüchen und ihrer großen Klappe fand ich sehr gelungen. Problematisch wurde die Geschichte für mich ab dem Punkt, wo sich die Akteure der Internet-Plattform "Limbo" ins Geschehen mit einmischten. Neben diesen jugendlichen allzeit präsenten Gesichtern des Betreibers hatte ich manchmal das Gefühl, dass sogar der derzeit in aller Munde liegende Elon Musk regelrecht blass aussieht. Limbo - so zeigte sich im Verlaufe der Handlung - kann offensichtlich alles, weiß sowieso alles und kommt es darauf an, könnte es sogar ein Einhorn mit rosa Mähne real in der Schule auftreten lassen. Irgendwann hatte die Handlung mit den realen Vorkommnissen an einer echten Schule nicht mehr viel zu tun und das Ganze las sich wie ein überdrehter, quietschbunter Zukunftsroman.
Ein schriller Retro-Film mit Stirnbändern, weißen Socken und Disco-Rollern...
Damit blieb aber die wichtigste Botschaft der anfangs tollen Geschichte auf der Strecke. Vieles wirkte einfach nur noch überdreht und nicht mehr glaubhaft. Ehrlich gesagt, ich tat mich sowieso ein bisschen schwer mit den Jugendlichen, die plötzlich so ganz im Retro-Fieber waren. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass plötzlich die ganzen Klamotten der 80er wieder hipp sein sollten und plötzlich jeder mit den guten alten Disco-Rollern unterwegs war. Manchmal hatte ich auch eher das Gefühl, dass sich die beiden Autoren im nostalgischen Retro-Feeling austobten und die eigentlichen Adressaten irgendwie vergessen wurden.
Ganz schwer tat ich mich auch mit der angedeuteten Kriminalgeschichte, nach der Protagonisten der Challenge plötzlich verschwanden und ein Verbrechen angedeutet wurde. Dieser Zweig wurde so blass und dünn erzählt, dass man den Eindruck gewinnen konnte, selbst die Autoren nahmen in nicht richtig ernst. Ich empfand diesen Strang fast nur wie Beiwerk, der der nur beigefügt wurde, um die Geschichte dann endlich zu einem dramatischen Abschluss zu treiben.
Fazit
Jarrod Shusterman hat schon mit "Dry" bewiesen, dass er phantastische Pageturner schreiben kann, Sofia Lapuente bringt so viel spanischen Charme mit in die Erzählung - diese Kombination ließ auf einen tollen, realitätsnahen, spannenden Roman hoffen. Gelungen ist das leider nicht ganz.

Sofía Lapuente, Jarrod Shusterman, Fischer Sauerländer
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