Große Spannung um die Frage: Was ist Fluch, was ist Segen, was ist nur verrückt?
Julian kennt es seit frühester Jugend nicht anders: Ohne Vorwarnung verströmen Menschen, die er trifft plötzlich Nebel, verschwinden hinter schwarzen Flecken oder wabernden roten Wolken oder werden scheinbar von einem schwarzen Keil gespalten. Offensichtlich leidet er unter einer Psychose, hat aber seine Strategien gefunden, damit zurechtzukommen. Die eine ist die, bei allen mal so gerade auf die Schuhe zu gucken, denn da ist nichts Schlimmes zu sehen, die andere ist die, täglich zwei Pillen zu schlucken und schon ist der ganze Zauber vorbei. Insbesondere dank seiner "kleinen Helfer" kann Julian endlich ein normales Leben führen. Naja - sagen wir ein ziemlich normales Leben. Das bleibt exakt bis zu dem Tag so, an dem er sich auf dem Klassentreffen mit den alten Mitschülern trifft, denn hier erfährt Julian so einiges über das Schicksal der anderen, die ihn damals regelrecht wegmobbten. Plötzlich bekommen die alten Visionen und Phantasien eine ganz neue Bedeutung. Drohte einigen aus seiner Klasse ein schlimmes Schicksal und Julian hat es vorhergesehen?
Die Welt ist blind und du kannst sehen?
In der griechischen Mythologie wird von einer Frau namens Kassandra erzählt. Aus Liebe hatte ihr ein Gott die Gabe der Weissagung geschenkt. Weil sie diese Liebe aber nicht erwiderte, belegte der gleiche Gott sie anschließend mit dem Fluch, dass niemand ihr glaubte. Kassandra gilt somit als eine tragische Heldin - sie sah das Unheil kommen, aber alle hielten sie für verrückt.
Wie sich ihr Leben angefühlt haben muss, das kann Ursula Poznanskis Held in ihrem neuen Roman nachfühlen: Seit frühester Kindheit hatte er Visionen, die ihn verängstigten und vor denen er flüchtete. Natürlich flüchtete, denn er wusste nicht, warum er gruselige Erscheinungen hatte und es war auch niemand da, der sie ihm hätte erklären können. Was aber sagt man über jemanden, der etwas sieht, was nicht da ist? Richtig - der ist verrückt: Julian wird daher schon lange von seiner Psychologen Sonja behandelt und natürlich ist das auch gut so, denn wenn der Geist oder die Seele erkrankt sind, ist wichtig, dass geholfen wird. Poznanski erzählt hier von dem Konflikt, als Julian langsam ahnt, dass seine Visionen nicht auf eine Krankheit, sondern auf eine Gabe zurückzuführen sind. Stell' dir vor, alle wären blind, alle würden ihre Umwelt als schwarze Fläche beschreiben und plötzlich kann jemand sehen, wie sich Bäume im Wind wiegen. Beängstigend.
Julian beginnt seine Gabe zu akzeptieren und sie sogar zu nutzen. Das ist aber für ihn nicht immer eine tolle Sache, denn es geht ihm wie der Kassandra aus der Antike. Wer glaubt einem Wildfremden, dass er jetzt nicht losfahren soll, weil möglicherweise ein Unfall droht? Würde die Nachbarin dir glauben, wenn du ihr erzählst, dass ihr sympathischer Mann ihr offensichtlich nach dem Leben trachtet? Julian stellt fest, dass alle ihn für verrückt halten und so muss er manchmal die anderen zu ihrem buchstäblich Besten zwingen. Selbstverständlich ist aber eine Katastrophe, die nicht eintritt, niemals eine Katastrophe gewesen und so zieht er sich immer weiter den Unmut seiner Mitmenschen zu.
Wo viel Licht ist, ist auch ein bisschen Schatten
Ursula Poznanski ist wieder ein absolut spannender Roman gelungen, den man kaum aus der Hand legen möchte. Dennoch gab es auch ein paar Sachen, die mir nicht gefielen. Ein ganz großes Problem hatte ich damit, dass Julian ohne Absprache mit seiner Ärztin und auf eigene Faust seine Medikamente absetzt. Ausnahmsweise mag das in seinem Fall gut gehen, aber so ein eigenmächtiges Handeln dürfte im richtigen Leben schnell in die Katastrophe führen.
Als anstrengend empfand ich auch, dass der Held Katastrophen kommen sieht, diese - tatsächlich manchmal auch mit Gewalt - verhindert und sich damit dann auch immer übler in die Bredouille fährt. Als Leser hätte ich mir manchmal gewünscht, dass man hier ein bisschen belohnt wird und dass auch im Roman ein paar Menschen mehr erkennen, dass Julian eigentlich ihr Retter ist. Der Einzige, der das tatsächlich erkennt, ist dann ausgerechnet der Bösewicht der Geschichte und auch bei ihm warfen sich ein paar Fragen auf. So die eine, warum er immer weiter gemein und nur auf sein eigenes Wohl bedacht bleibt, die andere, warum Julian, der ja ganz klar sehen kann, woran er bei ihm ist, sich trotzdem so weit auf ihn einlässt. Ich hätte mir auch gewünscht, dass über Julians besondere Beziehung zu seiner Oma ein bisschen mehr erzählt wird und vielleicht auch deren mysteriöse Warnungen ein bisschen klarer in die Geschichte eingebunden worden wären.
Fazit
Ursula Poznanski hat wieder ihre Klasse bewiesen. Ihren neuen Roman mag man kaum aus der Hand legen und dennoch schafft es die Autorin sogar, dass sich der Leser manchmal fragt, ob Julians Visionen nicht doch am Ende des Tages reine Spinnerei sind.
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