Alle Farben grau

  • Fischer
  • Erschienen: August 2023
  • 0

Hardcover, 272 Seiten

ISBN: 9783737343299

Alle Farben grau
Alle Farben grau
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Theresa Mürmann
9101

Jugendbuch-Couch Rezension vonNov 2023

Manchmal braucht es Geschichten, die schockieren, um hinterher klarer zu sehen

Eigentlich sollte Paul total happy sein, denn endlich steht für den 16-jährigen das an, wovon er immer geträumt hat: ein Auslandsaufenthalt in Japan. Dass er einen Großteil dieser Zeit im Kleiderschrank verbringt, war nicht abzusehen. Oder doch? Denn Paul geht es schon seit langem nicht gut. Da ist eine Stimme in seinem Kopf, die immerzu auf ihn einredet, ihn schlecht macht und alles und jeden grau aussehen lässt. Die Einweisung in die Jugendpsychiatrie ist der letzte Ausweg, um Paul eine hoffnungsvollere Zukunft zu ermöglichen. Doch diese Hoffnung hat er schon längst aufgegeben…

Es ist eines dieser Bücher, bei denen der Klappentext vorab mit Bedacht gelesen werden sollte. Denn die Geschichte von Pauls Suizid ist traurig, schockierend und an vielen Stellen nur schwer zu ertragen. Aber sie ist wahr und muss erzählt werden. Martin Schäuble hat für dieses Jugendbuch eine Familie getroffen, die von dem Schicksal ihres Sohnes erzählt hat, um den Blick für ein Thema zu schärfen, das viel zu oft unter den Teppich gekehrt wird. Ihr Wunsch: Psychische Erkrankungen sollen nicht mehr als Tabu wahrgenommen, vielmehr soll offen über sie gesprochen werden. Alle Namen wurden natürlich geändert und Handlungsstränge und Charaktere fiktionalisiert.

„Wenn Paul referiert, geht es ihm gut, wenn er reduziert, geht es ihm nicht gut.“

In zeitlichen Sprüngen werden die Monate vor Pauls Klinikaufenthalt, die Zeit in Japan oder auch ein Familienurlaub in der früheren Jugend aufgearbeitet. Es geht immer vor und zurück, ohne Chronologie. Pauls Weg wird dabei nicht nur aus der Sicht des Protagonisten selbst nachgezeichnet, vielmehr kommen Schulkamerad*innen, Freund*innen aus der „Klapse“, wie sie von den Patient*innen genannt wird, sein Japanisch-Lehrer und seine Familie zu Wort. Je mehr Leute von Paul erzählen, umso deutlicher wird, welch große Rolle er doch in ihrer aller Leben gespielt hat. Dabei, und das ist das Tragische, dachte Paul selbst, dass er niemandem etwas wert sei. 

Wenn man Paul einmal kennengelernt hat, dann vergisst man ihn so schnell nicht wieder. Nahezu jede*r hat von besonderen Begegnungen und Gesprächen zu erzählen. Wobei man letztere eher Monologe nennen sollte: Denn Paul wusste so ziemlich alles und zeigte das auch gern. David Bowie, Analysis oder die Legalisierung von Cannabis. Im Grunde genommen war das Thema egal, Paul hatte immer eine Argumentation oder unbekannte Fakten parat. Was das Zwischenmenschliche anging, hatte er jedoch so seine Probleme, von Berührungen, wie beispielsweise Umarmungen, ganz zu schweigen. Dass er ein Autist war, erfuhr er erst in der „Klapse“.

Was wäre gewesen, wenn?

Im Nachhinein sind es die kleinen Nuancen in Pauls Aussagen und seinem Verhalten, die sein Vorhaben ankündigen. Hätte man ihn noch stoppen können? Wäre das alles passiert, wenn die Autismus-Diagnose schon viel früher gestellt worden wären? Vielleicht hätten Antidepressiva, die Paul nicht nehmen wollte, das Drama verhindern können?

Nur schwer zu ertragen sind die Berichte aus der Psychiatrie und den Schicksalen der jungen Menschen dort. Alina, die bereits zwei Suizidversuche hinter sich hat, der alkoholabhängige Justin und Katha, die aus Frust über sich selbst ihren Kopf gegen die Wand schlägt. Es ist erschütternd zu lesen, wie sehr das Leben sie schon auf die Probe gestellt hat. So sehr, dass sie diesem schon fast überdrüssig sind. Selbst wenn sie es aus dieser dunklen Zeit schaffen, werden die seelischen Wunden vermutlich nie vollständig heilen.

Paul kann seine Situation bald nur noch durch Kompensation ertragen: Ritzen und Kiffen. Letzteres wird für ihn schon fast zu einer Mission, wenn er seinen Gegenübern die Vorzüge des Kiffens im Vergleich zum Alkoholkonsum aufzeigt. Und wenn es ihm zu viel wird in der Welt da draußen, dann spannt er einfach seinen Sonnenschirm auf: Ein kleiner Raum nur für ihn.

Unglaublich bewundernswert ist die Figur von Pauls Mama, denn selbst in den anstrengendsten und dunkelsten Momenten bewahrt sie die Ruhe. Sie geht auf ihren Sohn zu, mit dem zu diskutieren wirklich nicht immer eine Freude ist, und gibt ihm stets das Gefühl von Sicherheit. Und obwohl sich Paul letztlich dennoch für den Selbstmord entschieden hat, so war er sich einer Sache bewusst: Seine Familie liebt ihn.

Fazit

Pauls Geschichte ist eine ohne Happy End, denn es ist zu spät. Umso wichtiger ist es, sie zu erzählen, um psychischen Erkrankungen in unserer Gesellschaft den Raum zu geben, den sie brauchen. Damit es in Zukunft eben nicht mehr zu spät ist.

Alle Farben grau

Martin Schäuble, Fischer

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