Scheißglitzertage

  • Oetinger
  • Erschienen: Juli 2023
  • 0

Hardcover, 400 Seiten

ISBN: 9783751203937

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Theresa Mürmann
8101

Jugendbuch-Couch Rezension vonSep 2023

Wer sagt hier eigentlich noch die Wahrheit?

Schon bei ihrer ersten Begegnung auf Usedom ist Ulja besonders: Wer bestellt denn bitte die Sorte „Erdbeer-Cookie“? Finnley ist sofort hin und weg von dem ukrainischen Mädchen. Immer wieder taucht sie plötzlich an Orten auf, einfach so, um dann wieder zu verschwinden. Doch Ulja verbringt hier keinen Urlaub, wie die anderen Touris. Sie ist auf der Flucht vor dem Krieg, der in ihrem Heimatland herrscht …

Wer lässt sich bei dem Kauf eines Buches nicht auch vom Cover leiten? Manchmal hat man das Gefühl, ein Buchgenre, gar einen Handlungsverlauf, anhand des Umschlags erkennen zu können. Ein Glück, dass es Geschichten wie diese hier gibt, die mit dieser Annahme brechen. Denn hinter dem romantischen Sonnenuntergang auf einer Seebrücke verbirgt sich keine leichte Strandlektüre, sondern ein höchst politischer und anspruchsvoller Jugendroman der renommierten Kinder- und Jugendbuchautorin Antonia Michaelis.

Schauplatz der Handlung ist die an der Grenze zu Polen liegende Insel Usedom, Finnleys Arbeitsplatz im Sommer. Denn er jobbt in einem Eiswagen, wo er auch Ulja kennenlernt. Eigentlich wohnt er, wie auch seine Freunde Neil und Leif, in Wolgast, einer Kleinstadt, die unmittelbar vor der Insel gelegen ist. Doch von einer rosigen Zukunft kann man hier nur träumen.

„Auf mich wartet irgendwo ein anderes Leben. Glitzernd und gefährlich und neu, ohne Wände, ohne Grenzen.“

Die Perspektivlosigkeit, wie sie Finnley und seine Freunde in Wolgast erleben, erinnert ein bisschen an das Buch Nullerjahre von Hendrik Bolz: ein Leben im Plattenbau, im „Ghetto“, Sozialleistungen, Alkohol und andere Drogen, Gewalt. Doch Finnley, Neil und Leif vereint etwas - der Traum von einem anderen Leben. Einem Leben in der großen weiten Welt, das eine bessere, unbeschwerte Zukunft prophezeit.

Es ist traurig und berührend zu lesen, wie Finnley sich für seine kleine Schwester Kira ein anderes Leben als das der vielen jungen Mütter wünscht, die mit neunzehn Jahren ihre Nachmittage rauchend auf dem Spielplatz verbringen - mit ihren zwei kleinen Kindern. Doch er weiß, dass es kaum möglich ist, diesen ausgetretenen Pfad zu verlassen.

Der Krieg kommt immer näher

Es beginnt mit einem Herzinfarkt, der vielleicht keiner war. Für Neil ist der Tod ein Nebenverdienst, denn er arbeitet bei einem Bestattungsinstitut. Er brennt für seinen Job, in seinen Augen hat jedes noch so kleinste Lebewesen eine würdige Beerdigung verdient. Kein Wunder, dass es ihn nicht loslässt, als er feststellt, dass bei seinem neuesten Todesfall anscheinend nicht alles mit rechten Dingen zuging. Gemeinsam mit Finnley und Leif beginnt er zu ermitteln. Allerdings geraten sie dabei in eine Sache hinein, die für die drei eindeutig eine Nummer zu groß ist.

Es scheint einen Zusammenhang mit der allgemeinen Angst vor einem Krieg auf Usedom zu geben. Das Militär führt eine Übung nach der nächsten durch, die Lebensmittel werden knapp und es gibt die ersten toten Soldaten. Die Russen kommen immer näher. Für Ulja, die dem Grauen erst gerade entkommen ist, beginnt ein neuer Albtraum. So entspinnt sich nach und nach ein regelrechter Thriller, der vor Augen führt, wie das alltägliche Leben von jetzt auf gleich plötzlich ein an anderes sein kann: Luftalarm, Nahrungsmittelknappheit, Angst um Freunde und Familie. Doch die vier kommen immer mehr Ungereimtheiten auf die Spur, die sie zweifeln lassen: Wem kann man eigentlich noch trauen?

Nicht nur die Handlung ist eine anspruchsvolle, auch der Schreibstil ist keiner, bei dem man die Seiten schnell weiterblättert. Zwischen den Zeilen steht an vielen Stellen des Romans so viel mehr. Die Liste eindrucksvoller Zitate könnte man bei diesem Buch wahrscheinlich ewig weiterführen.

„Freunde teilen alles. Freunde sind nicht eifersüchtig. Niemals.“

Es sind die Charaktere, die diese Geschichte so besonders machen. Immer wieder denkt man, sie nun wirklich zu kennen, doch dann kommt wieder eine ganz neue Seite ans Licht. Die Freundschaft zwischen Finnley, Neil und Leif ist eine besondere. Sie können nicht über ihre Gefühle sprechen und sind sich in mancherlei Hinsicht fremd, gehen sich auf die Nerven. Aber wenn es drauf ankommt, sind sie loyal und stehen füreinander ein. Lernen neue Seiten an sich kennen und wissen den jeweils anderen zu schätzen. Tatsächlich kann selbst Ulja, die auf alle drei eine magische Wirkung hat, die Freundschaft nicht zerstören. Sie ist für alle drei eine Rettung - ohne Eifersucht und Missgunst.

Fazit

Ein bis zum Schluss spannender und hochaktueller Jugendroman, der so viel mehr bietet, als das Cover vermuten lässt.

Scheißglitzertage

Antonia Michaelis, Oetinger

Scheißglitzertage

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