Kollektorgang

Broschur, 128 Seiten

ISBN: 9783407757340

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Sabine Bongenberg
8101

Jugendbuch-Couch Rezension vonApr 2023

Vielleicht ein bisschen zu viel gewollt

Mario kann so einiges aus seinem Leben erzählen: Wie es so war, mit der Familie in einer Plattenbausiedlung groß zu werden, in eine Klasse zu gehen, in der die anderen irgendwie immer mehr Geld hatten oder es einfacher hatten, vor Nicki und dessen Gang von Nezonazis davonzurennen und vor allem - wie es ist, wenn man tot ist. Er berichtet tatsächlich aus dem Jenseits und auch hier stellt sich heraus, dass es nicht so ist, wie es in der Bibel versprochen wurde, nämlich dass den "armen Seelen" jede Träne getrocknet wird. Ganz einfach ist hier auch nicht alles und so hat Mario viel Zeit einen Rückblick über sein kurzes Leben zu geben, denn er erlebte seinen 14 Geburtstag nicht. Er erzählt von Freundschaften, von Verrat, von großen Gefühlen, die er sich aber nicht traute auszusprechen, vom Leben im Plattenbau und von den Verstecken im endlosen Kollektorgang, der ganz zum Schluss auch die Bühne für den großen Kampf gab, der über Marios Schicksal - und nicht nur über seines - entschied.

Am Rand stand ich schon zu Lebzeiten oft genug

David Blum lässt seinen Ich-Erzähler Mario direkt zum Punkt kommen: Er erzählt nicht mehr als Lebender. Sondern seine Stimme kommt aus einer anderen Welt. Natürlich könnte man jetzt an die Sache mich Wolken und Geigen denken - aber so desillusionierend wie Marios irdisches Leben war, genauso geht es nach dem Tod weiter. Da wäre noch einiges an Luft nach oben, um dieses Dasein halbwegs angenehm zu gestalten. In Ermangelung von neuen spannenden Erkenntnissen im jetzigen Dasein erzählt Mario aus seinem gelebten Leben - von seinem Vater, der mit der Wende nicht zurecht- und immer öfter besoffen zuhause ankam oder auch von den Kindern, die auf den langweiligsten Spielplätzen der Welt abhingen und sich dann auch noch vor Nicki und seiner Gang in Acht nehmen mussten.  Es ist ein frustrierendes Bild was hier gezeichnet wird und da es in fast allen Lebensbereichen recht düster ist, ist es schon ein bisschen viel für den Leser. Einiges wird danach dann auch nur angerissen, aber nicht mehr weitererzählt und verläuft sich irgendwo. Einige Ideen sind toll und witzig, kommen und gehen aber auch plötzlich und diese Sprünge in der Handlung erfordern konzentriertes Lesen.

„Solche wie der können nicht zuhauen. Sie haben es einfach nicht drauf.“

Eine wichtige Rolle in Marios Schilderungen um den täglichen Überlebenskampf spielt das Boxen. Stefan, einer seiner Freunde, ist der erste, der sich mit diesem Sport beschäftigt, bis dann die Geschwister Rajko und Ema mit ihrer Familie in die "Platte" ziehen und Rajko in den Fokus tritt. Er ist ein großes Talent und könnte viel erreichen - aber auch hier wird davon erzählt, wie soziale Fesseln diesen möglichen Aufschwung vereiteln. Rajko ist auch der, der durch seine besondere Art zu boxen insbesondere die Aufmerksamkeit des Gangchefs Nicki und seiner Neonazi-Freunde auf sich zieht und hier schlägt der Autor einen Bogen, zu dem Boxer Johann "Rukeli" Trollmann. Er errang am Vorabend des Dritten Reiches sportliche Erfolge, bis - nach der Machtergreifung - sein tänzerischer Stil als "undeutsch" verunglimpft  und Trollmann selbst - zu den Sinti gehörend - misshandelt, entrechtet, verstümmelt und getötet wurde. Für mich wirkte dieser Vergleich aber in der heutigen Zeit nicht mehr so recht passend, denn seitdem Mohammad Ali wie ein Schmetterling durch den Ring glitt und gleichzeitig wie eine Biene zustach, ist dieser Stil sicherlich etabliert.

Lebendig und schön geschildert sind aber andere Elemente aus Marios Leben. So zum Beispiel seine heimliche Liebe zu Ema und zu dem Problem, das uns alle beschäftigt, wie man sich dazu bringt, diese Gefühle dann auch zu zeigen oder auszusprechen. Wie so oft spricht Mario dann auch seine Gefühle aus, als alles zu spät ist und das schafft aber dann noch einmal einen besonderen poetischen Ausgang.

Fazit

Mit Kollektorgang hat David Blum ein eigenwilliges, manchmal verrücktes und witziges, manchmal poetisches und trauriges Buch vorgelegt. Vieles ist gewollt und auf einer Seitenzahl von 127 Seiten muss damit einiges zu kurz kommen.

Kollektorgang

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