Ein halber Sommer

  • Oetinger
  • Erschienen: Juli 2019
  • 0

Illustriert von Carina Crenshaw; Hardcover, 272 Seiten

ISBN: 9783789110511

Ein halber Sommer
Ein halber Sommer
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Sabine Bongenberg
7101

Jugendbuch-Couch Rezension vonSep 2019

Zu viel Liebe, zu wenig Mauerbau

Eine kurze geschichtliche Einführung

Es war ein heißer Sommer im Jahr 1961, als die politische Vertretung der sowjetisch besetzten Zone beschloss, das Ausbluten der noch jungen DDR zu verhindern und ihre Bürger mittels einer Mauer einzusperren. Viele Menschen hatten es vorgezogen, dem von Krisen geschüttelten „real existierenden Sozialismus“ den Rücken zukehren und ihr Heil im kapitalistisch geprägten – aber dafür freien – Westen zu suchen. Die Führung der herrschenden Partei ließ Soldaten aufmarschieren, Stacheldrahtzäune legen und emsige Bauarbeiter den „Antifaschistischen Schutzwall“ aufziehen. Durch die Mauer wurden Familien über Jahre voneinander getrennt, Lieben zerrissen, Leben zerstört und Träume beendet. Wer die Mauer nicht gesehen hat, kann sich heute nicht mehr vorstellen, dass sie 1) überhaupt möglich war und 2) tatsächlich bis 1989 fortbestand. Wie viele Menschen einen Fluchtversuch aus der DDR mit ihrem Leben bezahlten, ist bis heute nicht vollkommen klar.

Eine verbotene Liebe

Maike Stein, die das geteilte Berlin noch aus persönlicher Erfahrung kennt, erzählt die Liebesgeschichte der beiden Mädchen Marie und Lennie vor dem Hintergrund des Mauerbaus. Beide leben in unterschiedlichen Teilen Berlins – bis zum 13. August 1961 spielte das keine allzu große Rolle – und als sie sich kennenlernen, schlägt die Liebe wie ein Blitzschlag ein. Dennoch müssen Marie und Lennie ihre Gefühle füreinander geheim halten, denn Liebe zwischen dem gleichen Geschlecht war auch nach dem Krieg noch unerhört und unmöglich, wenn auch immerhin nicht von einer Strafverfolgung bedroht. Unmöglich scheint aber auch eine gemeinsame Zukunft zu sein, denn die Teilung Deutschlands unterbricht jede Kontaktmöglichkeit zwischen Ost und West und damit auch zwischen den beiden Verliebten.

Die Autorin stellt mit ihrem Roman Ein geteilter Sommer eine schön erzählte Liebesgeschichte zweier Teenager vor. Dennoch ist es diese Geschichte, die die Glaubwürdigkeit des Buches erschwert. Auch wenn heute eine Beziehung zwischen Frauen nicht mehr viele veranlasst, eine Augenbraue zu heben, sah das vor Jahren komplett anders aus. Lesbische Beziehungen waren zwar – anders als die zwischen Männern – nicht von Strafe bedroht, was aber möglicherweise daran gelegen haben dürfte, dass Frauen in der Gesellschaft nur eine untergeordnete Rolle spielten und nicht sonderlich ernst genommen wurden. Eine gleichgeschlechtliche Liebe galt dennoch als etwas Widernatürliches, etwas das nicht der Norm und den Vorgaben der Gesellschaft entsprach, und daher fällt es schwer zu glauben, dass sich Marie und Lennie mit offenen Armen und ohne Zweifel an ihren Gefühlen oder an ihrem „Normalsein“ in diese erste Liebe werfen durften und auch locker propagieren konnten, dass sie „nur auf Frauen stehen“.

Einige Ungereimtheiten

Ein weiterer Punkt, der die immer wieder für ein Stocken in der angenehmen Lektüre sorgt, sind die Geschichten der beiden Familien, die bei der zeitlichen Einordnung Fragen aufwerfen. Insbesondere die zu Maries Vater scheinen nicht so recht zu passen, da er rechnerisch zum Zeitpunkt des Kriegsendes ein Jugendlicher gewesen sein dürfte und damit viel zu jung, um ihr Vater zu sein. Unrund erscheinen auch die Angaben zu Maries Mutter, die laut Erzählung 1953 bei einem Unfall ums Leben kam, aber in ihren damaligen Tagebüchern Marie und ihren Bruder Ecki als Kleinkinder bezeichnete. Möglicherweise sind das kleinliche Fragen, aber der Erzählfluss wird durch diese Abweichungen regelmäßig gebremst.

Zu kurz kommt meiner Meinung nach die Vermittlung von historischen Grundlagen und dem, was der Mauerbau tatsächlich bewirkte oder was ihm vorausging. Maike Stein lässt Marie und ihre Familie im Urlaub von der Abriegelung der Sektorengrenze erfahren, aus dem Radio hören sie von Stacheldraht und Gräben und davon, dass die Grenze „dicht“ sei. Die ganzen dramatischen ersten Stunden und Tage des Mauerbaus werden nicht als Augenzeugenbericht erzählt. Hier wäre es aber spannend – und auch wichtig – gewesen, zu erfahren, wie es Berlinern noch auf den letzten Metern gelang, zu fliehen, wie die Menschen damit umgehen mussten, an der neu entstandenen Grenze aus ihren Häusern und Wohnungen geworfen zu werden oder mit ansehen mussten, wie plötzlich alles zugemauert wurde. Als tatsächlicher Zeuge erzählt hier niemand; es bleibt dabei, dass über die Abriegelung aus zweiter Hand berichtet wird.

Interessante familiäre Geschichten

Besonders gute Momente schafft die Autorin dagegen in der Beschreibung der beiden Elternhäuser. Lennies Mutter hält ihrem seit Jahren vermissten Ehemann unerschütterlich die Treue und weigert sich – gegen aller Wahrscheinlichkeit – dessen Tod zu akzeptieren. Maries Vater erlebte die Repressionen und die Untaten des dritten Reichs teilweise am eigenen Leib und schwor sich daher, niemals wieder ein derartiges System nach oben treiben zu lassen. Ihr jüngerer Bruder Ecki dagegen wurde besonders durch die Streitigkeiten in der Ehe seiner Eltern gezeichnet, die dem Unfalltod der Mutter vorausgingen. Er hat anhand des Schweigens in der Familie und der erlebten Spannungen die Strategie entwickelt, gegen die Stille anzuplappern. Ihm kommt auch eine besondere Rolle im ganzen Drama um die Zukunft der Beziehung zwischen Lennie und Marie zu – wird er doch teilweise zum Verräter und zum Kerkermeister seiner Schwester – und die besondere Tragik liegt hier darin, dass er diese Rollen aus Liebe und nicht aus Boshaftigkeit ausübt.

Fazit

Maike Stein hat einen lesenswerten Roman über eine Liebesbeziehung zwischen zwei Teenagern geschrieben. Aber leider hat sie einen sehr großen Schwerpunkt auf die Schilderung des „Brombeermunds, von dem der Saft dieser Früchte geküsst“ und der vielen Zärtlichkeiten zwischen den beiden gelegt und die Chance nicht genutzt, mehr über den Mauerbau zu vermitteln. Vielleicht war sie der Meinung, dass Geschichte oft ein bisschen sperrig ist oder die Berichte über die Mauer schon zu oft erzählt wurden – aber wer, wenn nicht sie, hätte diesen historischen Hintergrund spannend vermitteln können? Es bleibt bei einem lesenswerten Buch, das aber hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.

Ein halber Sommer

Maike Stein, Oetinger

Ein halber Sommer

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