Sprich

  • dtv
  • Erschienen: Juni 2019
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Originalausgabe erschienen unter dem Titel Speak; aus dem Englischen von Birgitt Kollmann; Taschenbuch, 288 Seiten

ISBN: 9783423627108

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Rita Dell'Agnese
9101

Jugendbuch-Couch Rezension vonAug 2019

Bedrückendes Schweigen

Melindas erstes Highschool-Jahr stellt ihr ganzes Umfeld vor ein Rätsel. Das vorher angepasste und fröhliche Mädchen ist zu einem verschlossenen Teenager geworden. Melindas Noten rasseln in den Keller. Außer in Kunst. Da kann Melinda brillieren. Ihr Kunstlehrer weiß aber, dass sie noch mehr zeigen kann, als sie es bisher tat. Und dass sie ein Geheimnis hat, das sie sprachlos macht. So sprachlos, dass Melinda sich bei jeder Gelegenheit verkriecht – in einem vergessenen Putzraum, den sie entdeckte und für sich hergerichtet hat. Dort versucht Melinda zu vergessen. Vergessen, was bei der Party vor ein paar Wochen geschah. Was Andy mit ihr gemacht hat. Dass sie damals die Polizei gerufen hat, macht Melinda zur Außenseiterin. Selbst ihre ehemals beste Freundin Rachel will nichts mehr von ihr wissen. Außerdem fährt Rachel tierisch just auf den Jungen ab, der Melinda die Sprache genommen hat. Auch die etwas verschrobene Heather, die selbst zu den Außenseiterinnen gehört, will mit Melinda nach einiger Zeit nicht mehr befreundet sein. Da beginnt sich Melinda aus der Sprachlosigkeit zu befreien. Nach und nach gelingt es ihr, die traumatischen Erlebnisse in Worte zu fassen.

Den Kampf miterleben

Autorin Laurie Halse Anderson geht sehr nahe an ihre Protagonistin heran. Sie hat den Roman in ganz kurze Abschnitte unterteilt, oft nur Gedankensplitter von Melinda. Fast tagebuchartig schildert das Mädchen, was in ihr vorgeht, welchen Schmerz sie bei der einen oder anderen Situation empfindet, welche Hilflosigkeit sich in ihr breitmacht. Sie kann nicht über das sprechen, was ihr widerfahren ist, denn sie kann es noch nicht richtig zuordnen. Sie spürt, dass ihr etwas sehr Wichtiges abhandengekommen ist, will aber mit ihren Eltern nicht darüber reden, um es nicht offensichtlich werden zu lassen.

Melinda möchte nicht diejenige sein, der Gewalt angetan worden ist und auf die die ganze Schule mit dem Finger zeigt. Das macht sie so sprachlos. Die Eltern reagieren mit Druck und Unverständnis auf die plötzliche Veränderung ihrer Tochter. Auch diese Reaktion kann die Autorin sehr gut auffangen und sichtbar machen. Sie vermuten hinter Melindas Sprachlosigkeit das trotzige Verhalten eines Teenagers, was es Melinda noch schwerer macht, sich den Eltern anzuvertrauen. Den Kampf, endlich jemanden zu erzählen, was geschehen ist und die gleichzeitige Unmöglichkeit, zu sprechen, wird durch die kurzen Sequenzen hautnah erlebbar.

Eine Gratwanderung

So wichtig das Thema ist, das Laurie Halse Anderson in ihrem Buch anspricht, so dünn ist der Grat, auf dem sie wandert. Die vier Quartale des Schuljahrs werden zwar in geraffter Form wiedergegeben, doch passiert verhältnismäßig wenig. Immer wieder kommt es zu unangenehmen Ereignissen, aufgrund derer sich Melinda zurückzieht. Zwar ist dieser Rückzug jeweils gut nachvollziehbar, doch auf Dauer wiederholen sich die Szenen und wirken auf die Leserinnen und Leser etwas ermüdend. Mehrfach läuft die Geschichte Gefahr, in die Bedeutungslosigkeit zu kippen, zumal die Autorin zunächst nur andeutet, dass etwas Gravierendes vorgefallen ist, den Missbrauch aber nicht thematisiert. So braucht es vor allem in der Buchmitte etwas Biss, an der Sache dran zu bleiben, bis die Geschichte wieder Fahrt aufnimmt und sich aus dem Sumpf befreit.

Glaubwürdige Charaktere

Mit Melinda, aber auch mit den verschiedenen Nebenfiguren, hat die Autorin einige Charaktere geschaffen, die in ihrer Handlungsweise absolut glaubwürdig sind. Wohl überzeichnet sie die ein oder andere Figur – so etwa die recht unscheinbare Heather, die sich überaus bemüht, es einem etwas schrägen Mädchen-Club recht zu machen, um als Mitglied aufgenommen zu werden. Hier tauchen dann doch zahlreiche Klischees auf, die wohl eine amüsante Note bringen sollen, letztlich aber vor allem nervig wirken. Trotzdem: die Figuren sind gut gewählt und transportieren die Aussage des Romans überzeugend und nachvollziehbar.

Fazit

Sprich ist ein wichtiger Roman, der die Sprachlosigkeit des Opfers nach einem Missbrauch sichtbar macht. Der Roman geht in die Tiefe und bringt die ganze Kettenreaktion an den Tag. Auch wenn er sehr stark von den gesellschaftlichen Normen der USA lebt, bekommen Teenager in Deutschland gute Impulse. Einzig das vom Verlag anvisierte Zielpublikum ab 12 Jahre scheint etwas tief gegriffen. Es braucht eine gewisse Reife, um die Handlungen Melindas verstehen zu können und sie nicht etwa als Vorbild zu nehmen.

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