Es muss ja nicht perfekt sein

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  • Erschienen: April 2019
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Es muss ja nicht perfekt sein
Es muss ja nicht perfekt sein
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Sabine Bongenberg
8101

Jugendbuch-Couch Rezension vonMai 2019

Eine wichtige Geschichte über das Überwinden von Ängsten

“Step on a crack, break your mother‘s neck“

Grundsätzlich mag es eine verlockende Vorstellung sein: Was wäre, wenn wir uns nicht den Dingen stellen, vor denen wir uns fürchten? Was wäre, wenn wir einfach die Dunkelheit, den ekligen Schleim, Tiere mit mehr als vier Beinen, die Möglichkeit, ausgelacht zu werden, umgehen? Wenn unsere Mütter unseren Lehrern auch den folgenden Brief überreichen würden:

„An alle zuständigen Lehrkräfte,
Bitte befreien Sie (Name ergänzen) von der Teilnahme an jeglichen Diskussionen, Referaten und sportlichen Aktivitäten in Ihrem Unterricht. Bitte rufen Sie sie nicht auf, oder wählen sie für irgendetwas aus. Lesen Sie ihre Arbeiten nicht anderen Schülern vor und machen Sie sich keine besondere Mühe, überhaupt von ihrer Anwesenheit Kenntnis zu nehmen. Herzliche Grüße“


Wir würden uns Angstschweiß ersparen, Herzrasen, unruhige Nächte vor einem wichtigen Termin.  Aber vor allem, würden wir aufhören, zu wachsen. Zu wachsen an der Erkenntnis, dass wir kämpfen können, dass wir wichtige Dinge schaffen und bewältigen, dass wir härter, stärker und besser sind, als wir manchmal glauben.

Eine Familie voller verschrobener Charaktere

Genau das findet Esther Solar ganz normal. Genauso normal wie ihre Familie – mit der Mutter, die alles Erreichbare mit Glücksbringern und Amuletten versieht, um ihre Angehörigen vor Unheil zu bewahren, vor lauter Hokuspokus aber versäumt, sich um ihre Kinder zu kümmern, und alles, was irgendeinen Wert aufweist, in die Spielhalle schleppt; mit dem Bruder, der sich bei Dunkelheit nur in der Nähe einer Lichtquelle wohlfühlt, die geeignet wäre, ein Stadion auszuleuchten; mit dem Vater, der seit Jahren im Keller lebt und sich dort langsam zu einem langhaarigen – wenn auch freundlichen – Steinzeitmenschen zurückentwickelt. Alles ist ganz normal, denn es ist einem Fluch geschuldet, der über die Familie gelegt wurde, und an Flüchen kann man bekanntermaßen nichts ändern. Man kann allerdings Ausweichstrategien entwickeln, um das vermeintlich Unvermeidliche herauszuzögern.

Wie es Esther gelingt, ihren Glauben an das alles bestimmende Schicksal zu ändern und ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, das schildert die Australierin Krystal Sutherland mit viel Humor, aber genau so viel Einfühlungsvermögen. Zunächst erscheint die Familie Solar als humorvolles Sammelsurium verschrobener Charaktere, die ähnlich der „Addams Family“ in einem eigenartigen Haus vor sich hinwursteln. Aber anders als in dieser Familie drohen reale Gefahren, die alles kaputt machen können, was wichtig ist. Es ist nicht mehr lustig, wenn die Mutter das gesamte Geld verzockt hat, die Heizung kaputt ist und nichts zu essen da ist. Man sieht auch nichts Komisches darin, wenn sich der Zwillingsbruder immer stärker ritzt und grundsätzlich klar ist, dass er auf einen Suizid zudriftet.

Ein ganzes Leben voller Ängste

In diesem Rahmen ist es Sutherland dennoch gelungen, eine wichtige Geschichte über das Wachsen und das Überwinden von Ängsten zu erschaffen und darin gleichzeitig eine zarte Liebesgeschichte einzubetten. Esther, die zu Beginn der Geschichte von ihrem alten Sandkastenschwarm Jonah gnadenlos beklaut wird, ihm schrittweise ihr Leben öffnet und von ihm dazu gebracht wird, sich in fünfzig Schritten ihren fünfzig größten Ängsten zu stellen, lässt die Leser lebendig und ohne Umschweife an ihrem bewegten Leben teilhaben. Esther erzählt die Dinge wie sie sind, Platz für Dramatik ist da nicht – aber ebenso wenig auch Platz für besondere Gefühle. Dieser Abschnitt ihres Herzens ist genauso sorgfältig verschlossen wie die obere Etage im Haus der Familie, die den letzten Abend vor einer Katastrophe wie unter einer Glaskuppel sorgfältig konserviert.

Sutherland erzählt mit Esthers Wachsen und dem Arbeiten mit ihren Ängsten gleichzeitig die Entwicklung ihres Umfeldes. Sie weist dabei nicht von der Hand, dass nicht alles einfach „überwunden“ werden kann, oder dass der Satz „Jetzt reiß’ dich mal zusammen!“ besonders hilfreich ist, sondern dass auch die Inanspruchnahme professioneller Hilfe kein Zugeben von Schwäche ist. Sie zeigt aber auch anhand ihrer Personen, dass verfahrene Situationen wieder auf das richtige Gleis gesetzt werden können – sofern Hilfe gesucht und zugelassen wird. Vor allem erfährt die Heldin, dass sie mit ihren persönlichen Ängsten, die sie als ureigene Schwäche und Makel empfand, nicht allein dasteht.

Eine kleine Schwäche des Buches stellt indes die Darstellung der vielen Probleme dar. Ein Wassertropfen, der unter einem Mikroskop untersucht wird, kann nur einen winzigen Auszug des Tümpels darstellen, aus dem er entnommen wurde. So bleibt auch in diesem Buch letztendlich einiges nicht aufgeklärt. Ich hätte mir beispielsweise gewünscht, dass die Situation des Jonah noch einmal besser beleuchtet oder aufgeklärt wird. Wenn er letztendlich auch aus seiner verfahrenen Situation ausbrechen kann, bleibt unklar, wie und warum bei ihm ein Umdenken oder eine Änderung stattfand. Hier wäre vielleicht ein bisschen weniger Mythologie über den vermeintlichen Tod oder die Personifizierung des Todes und ein bisschen mehr über die im Buch reale Figur des Jonah wünschenswert gewesen. Über den erfahren wir nämlich sehr wenig – und das ist schade. Generell kommt auch die Liebesgeschichte, die auf dem Buchrücken als wichtiges Element angekündigt wird, ein wenig zu kurz.
 

Fazit:

Der Klappentext des Buches verspricht eine „verrückte Liebesgeschichte mit dem Charme von Harold and Maude“. Ganz davon abgesehen, dass kaum jemand vom vorgesehenen Leserkreis wissen dürfte, wer zum Teufel „Harold and Maude“ sind, wird die Vorgabe der Liebesgeschichte weit überschritten. Es muss nicht perfekt sein ist viel mehr als das – und das ist gut so.

Es muss ja nicht perfekt sein

Krystal Sutherland, cbj

Es muss ja nicht perfekt sein

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