Henriette und der Traumdieb

Gottie ist nur noch ein Schuljahr von ihrem Abschluss entfernt und die lang ersehnten Sommerferien stehen vor der Tür. Sie möchte eigentlich nur in Ruhe über ihre Hausarbeit und das Raum-Zeit-Gefüge nachdenken, denn der Spezialauftrag ihrer Lehrerin könnte ein Empfehlungsschreiben für angesehene Universitäten parat halten.
Doch dann kommt alles anders als gedacht. Denn plötzlich steht ihr bester Freund und heimlicher Schwarm aus ihrer Jugend vor ihr, der vor fünf Jahren aus ihrem Leben verschwand. Noch dazu suchen sie mysteriöse Flashbacks heim, die sie in der Zeit um ein Jahr zurückwerfen. Zu jenem Zeitpunkt, den sie eigentlich aus ihrem Gedächtnis streichen wollte - dem Tod ihres geliebten Großvaters. Wird sie langsam verrückt? Oder ist es doch möglich, die Vergangenheit zu ändern? Ein bisschen wie Unendlichkeit ist ein romantischer, einfühlsamer und auch aufwühlender Roman über das Leben und seine Wendungen, die einen manchmal überraschend treffen können.

Schon allein die Aufteilung des Buchs ist etwas Besonderes, das man hervorheben muss. So sind die Kapitel mit dem jeweiligen Datum überschrieben und darunter ist vermerkt, wie viele Tage seit dem Tod von Gotties Großvater vergangen sind. Da dieses Ereignis der Dreh- und Wendepunkt der Geschichte ist, finde ich das eine wirklich schöne Idee. Generell wird uns die Story direkt aus Sicht der Protagonistin erzählt, was meiner Meinung nach auch die einzige sinnvolle Perspektive ist, da man so direkt an Gotties Gefühlswelt teilhaben kann. Die Flashbacks sind zusätzlich noch in kursiver Schrift verfasst, sodass man als Leser sofort sieht, wann man in die Vergangenheit reisen darf.

Gottie ist so eine Person, die einem von Anfang an sympathisch erscheint. Sie hat mich sofort für sich eingenommen und ich konnte im Verlauf der Geschichte mit ihr leiden, lachen und an ihrem Schicksal teilhaben. Sie macht auch eine extreme Wandlung durch, die man als Leser hautnah mitbekommt. Gottie nimmt dich an der Hand und lädt dich ein, eine Reise durch ihre Vergangenheit mit ihr zu erleben. Dabei ist sie zu jedem Zeitpunkt authentisch, denn sie macht Fehler, ist manchmal auch niedergeschlagen und in jede Richtung emotional - freudig, traurig, wütend, neugierig und frech.

Auch bei den Nebencharakteren hat die Autorin einen mehr als guten Job gemacht, denn viele von ihnen sind so real, dass sie vor dem inneren Auge des Lesers erwachen, selbst wenn sie gar nicht mehr leben und somit nur in den Erinnerungen der Personen existieren und beschrieben werden. Gotties Großvater ist so ein Charakter, der zwar auch ein bisschen verrückt ist, aber so liebevoll dargestellt wird, dass man ihn einfach mögen muss.

Die Geschichte selbst beschränkt sich auf sehr wenige Handlungsorte, die aber dafür umso detailgetreuer beschrieben wurden. So haben wir auf der einen Seite das Haus von Gottie, das gleichzeitig auch eine Art Festung für sie ist und deswegen eine zentrale Rolle spielt. Auf der anderen Seite ist da der Bücherladen der Familie, den man als Leser sofort heimelig findet und am liebsten selbst dort verweilen würde. Bei ihren Beschreibungen schafft es die Autorin, ein konkretes Bild zu erzeugen und doch Platz für die eigene Fantasie zu lassen, was ich sehr gelungen finde.

Die Spannung war durchgängig vorhanden, wobei sie in der Mitte minimal eingebrochen ist. Man fiebert mit der Protagonistin mit und bereitet sich im Verlauf der Story auf den Höhepunkt vor, der dann mit einer emotionalen Auflösung punkten kann. Auch die Flashbacks heizen die Spannung zusätzlich an, weil so Stück für Stück eine Erklärung geliefert wird, was in Gotties Vergangenheit passiert ist.

Ich würde hier eine Altersempfehlung von 16 Jahren aussprechen, weil das Buch zwischendurch immer wieder stark auf die Physik bzw. das Raum-Zeit-Geflecht eingeht. Hier war selbst ich manchmal überfordert, weil ich kein Physikgenie bin. Vom Verlag wird ein Alter von 14 Jahren empfohlen, was ich so generell auch unterstützen kann, weil es hier um die erste Liebe und die Trauer um einen geliebten Menschen geht.

Fazit

Eine mehr als emotionale Story, die mir am Ende einen wahren Tränenregen beschert hat, authentische Charaktere, die man ins Herz schließen kann und die fortwährende Frage: Wie sehr leben wir eigentlich in der Vergangenheit?

Henriette und der Traumdieb
Henriette und der Traumdieb
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Carsten Kuhr
9101

Jugendbuch-Couch Rezension vonMai 2017

Willkommen in der Welt der Träume

Henriette und ihr einen Tag jüngerer Zwillingsbruder verstehen sich oft nicht sonderlich gut. Zu verschieden sind die Beiden von der Art her. Nick, wie Nickolaus sich selbst nennt, ist ein Junge, der immer etwas zu tun haben will, während Henriette eher verträumt ist. In den Ferien werden sie regelmäßig bei ihrer Oma geparkt. Während Nick die Zeit verabscheut, freut sich seine Schwester auf die Tage. Nicht nur auf die Zeit mit ihrer Großmutter, sondern auch auf die wunderbare Antiquariats-Buchhandlung, die im Erdgeschoss untergebracht ist. Mit den beiden älteren Buchhändlern versteht sich Henriette wunderbar, doch dieses Mal ist alles anders.

Als sie eintreffen, werden sie von Herrn Punktatum noch freundlich begrüßt und ermahnt, bei der Glätte und dem Schnee draußen aufzupassen - am nächsten Tag ist der alte liebe Herr tot! Damit aber beginnen die wundersamen Geschehnisse erst.

Henriette hat von klein auf immer viel und lebhaft geträumt. Jeden Morgen berichtet sie am Frühstückstisch von ihren Träumen - allein, plötzlich kann sie sich an diese nicht mehr erinnern! Mehr noch, eines Nachts durchschreitet Nick in seinem Traum eine Tür und findet sich unerwartet mitten im Traum seiner Schwester wieder. Hilflos muss er miterleben, wie ein maskierter Dieb Henriette ihren Traum stiehlt.

Als er seine Schwester aufweckt und von den Erlebnissen berichtet, ist diese sehr erstaunt. Kann es so etwas wie einen Traumdieb geben, wie kann man in anderer Menschen Träume gelangen und was hat der Dieb von seinem Raub?

Als sie dem überlebenden Antiquar von den Geschehnissen berichtet, weiß dieser Rat. Aus alten, fast geheimen Büchern berichtet er von den Traumdieben, von Wachträumern und der Kunst, aktiv in seine Träume einzugreifen. Aber Achtung, dort lauern auch gefährliche Gegner - Alben, die Verursacher der Albträume, können Menschen dem Vergessen anheim fallen lassen und Verräter die besten Absichten zunichtemachen - auch und gerade, wenn sie es eigentlich gut meinen oder einfach nur versuchen, ihr Leid und ihre Trauer zu bewältigen ...

Auf den Spuren großer Vorbilder

Akram El-Bahays erster Roman für jugendliche Leser beschäftigt sich mit einigen Themen, die nicht ganz einfach zu vermitteln sind. Es geht um Verlust, um Trauer und die Akzeptanz des Schicksals. Verpackt hat der Autor, der uns bislang durch seine farbenprächtigen "Flammenwüste-Trilogie" (Bastei-Lübbe) ein Begriff ist, diese ersten Themen in ein märchenhaftes, gleichzeitig aber auch sehr abenteuerliches Buch.

Dabei lässt er die ausgetretenen Wege der Fantasy ganz bewusst hinter sich, wandelt auf eigenen Traumpfaden und erinnert in seiner Art zu erzählen an Vorbilder wie Michael Ende, Ralf Isau oder Cornelia Funke. Das sind sehr große Namen, doch in der Art, wie er altersgerecht seine Zielgruppe an diese Themen heranführt, erinnert er wirklich an diese Vorbilder.

Verpackt in die allzeit interessante, packende und gleichzeitig immer wieder überraschende Handlung hat er seine Botschaft ganz geschickt eingearbeitet. Nicht nur, dass er seinen jungen Leserinnen und Lesern ideale Identifikationsfiguren an die Hand gibt - die anfänglichen Kabbeleien der Geschwister sind ebenso nachvollziehbar und glaubwürdig wie ihre Liebe und Treue zueinander - die Welt, die er als Bühne wählt ist abwechslungsreich und immer wieder faszinierend ausgestaltet.

Sei es die Wüste mit den Beduinen, die Zwillings-Ritter oder der Nachtschattenwald - immer wieder werden Hinweise auf Träume und Vermengungen mit der Realität gegeben. Beeindruckend, wenn wir in einem sehr frühen Traum miterleben, wie Henriette in einer Welt riesiger Häuser und Wesen sich nur mühsam auf dem Bauch robbend vorwärts bewegen kann - erinnert uns das nicht an die Welt, wie sie Babys erscheinen muss? Gleichzeitig schimmert immer wieder auch die Liebe zum Medium Buch durch den Text durch. Die Art und Weise etwa, wie das Antiquariat beschrieben wird, verdeutlicht das Faible für das Medium Buch in seiner papierenen Form.

Fazit

Auf den jugendlichen Leser wartet ein Abenteuergarn erster Güte. Voller Überraschungen tauchen wir ein in die Welt der Träume, lernen dabei aber auch viel über uns selbst, wie wir Verluste akzeptieren, verarbeiten und weiterleben müssen.

Henriette und der Traumdieb

Akram El-Bahay, Ueberreuter

Henriette und der Traumdieb

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