Im Westen nichts Neues

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Jugendbuch-Couch Rezension vonJun 2014

DAS Buch vom Krieg – mit jeder Menge aktuellen Bonustracks

100 Jahre ist es her, dass der Weltkrieg begann, bald 120 Jahre wäre der Autor alt, und vor mehr als 80 Jahren ist dieses Buch zum ersten Mal erschienen – das ist alles ganz schön lange her. Aber der Autor, selbst als junger Mann Soldat im Ersten Weltkrieg, lässt seinen 19-jährigen Soldaten Paul Bäumer so lebendig erzählen, dass wir Leser auch heute noch sofort neben ihm im Schützengraben hocken. Seine Erzählsprache ist einfach jung – nicht jugendlich oder noch schlimmer, das, was Erwachsene dafür halten, ob damals oder heute. Und er versucht nicht, literarisch zu beeindrucken, sondern sagt schlicht, was Sache ist. Zum Beispiel wie peinlich und unmöglich es ist, in die Bettflasche zu pinkeln, wenn eine junge, hübsche Lazarettschwester sie einem hinhält.

Und schon nach den ersten Seiten ist der Erste Weltkrieg gar nicht sooo weit weg. Im Gegenteil, zusammen mit Paul Bäumer ist der Leser mittendrin. Der ist von der Schulbank nicht an die Uni oder auf Rucksackreise gegangen, sondern zusammen mit seinen Schulkameraden an die Front. Freiwillig – wenn man das in der damaligen durch und durch auf Nationalismus und Militarismus eingestellten Gesellschaft so nennen mag – und mit der festen Überzeugung, zum Ende des Sommers wieder zu Hause zu sein. Die letzten Kriege Deutschlands waren damals lange her und eher kurz gewesen.

Seitdem war zwar die Technik rasant und brutal weiterentwickelt worden. Aber 1914 hat sich kaum einer vorgestellt, welche Mengen an Menschen sich gegenseitig mit Maschinengewehren, Giftgas, Panzern, Flammenwerfern, Flugzeugen und weitreichender Artillerie umbringen können – jahrelang und ohne militärisch nennenswert voranzukommen. Natürlich hätte man es sich vorstellen können, wenn man gewollt hätte; auch damals gab es schon Anti-Kriegsbücher – "La Débâcle" über den deutsch-französischen Krieg 1870/71 von Émile Zola oder "Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen" über den amerikanischen Bürgerkrieg von Ambrose Bierce – auch damals gab es Menschen wie die erste Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, die sich gegen Krieg, Hass, Gewalt und für Frieden und Völkerverständigung eingesetzt haben. Aber das sind andere Geschichten.

Hier geht es um Paul Bäumer. Ob wir ihn nun für naiv und verblendet halten oder ob wir seine Aufbruchstimmung ins Abenteuer sogar ein bisschen verstehen: seine Weltanschauung bricht ruckzuck zusammen, angesichts von Drill und Schikane, von Krach, Gestank, Schlamm, Hunger, Blut und Leichen. Er hat tagelang Dienst an der Front, tötet, wird verletzt, im Lazarett zusammengeflickt und aufgepäppelt. Dann wieder Front, Todesangst, Panik, Tote und grauenvoll Verletzte.

Das Buch wird oft als Anitkriegsbuch bezeichnet – und natürlich ist es kein Buch für den Krieg, denn wer nach der Lektüre Krieg noch gut findet (ob notwendig oder immer vermeidbar, das ist eine andere Diskussion), der sollte lieber zur Therapie als zur Bundeswehr gehen. Aber es hat keinen straffen pädagogischen roten Faden, keine eingearbeiteten pazifistischen oder moralischen Bekenntnisse. Sondern es geht um Paul, wie er den Krieg erlebt, so wie er eben ist, jung, unsicher, verletzlich, scharf auf Frauen und manchmal auch zu Blödsinn aufgelegt.

 

"Dieses Buch soll weder eine Anklage sein noch ein Bekenntnis, es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Krieg zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam."

 

Das schreibt Remarque im Vorwort.

Sein eigentlicher Roman ist ein schmales Bändchen. Diese Ausgabe ist mehr als doppelt so dick, weil der Leiter des Remarque-Friedenszentrums Osnabrück Thomas F. Schneider einen umfassenden Anhang zusammengestellt hat, als Bonustrack sozusagen. Viel über Remarque, unveröffentlichte Szenen, Leserbriefe und Zeitungsartikel über das Buch. Als das Buch erschien, warb der Verlag damit, der junge Mann habe sich den Text in sechs Wochen von der kriegstraumatisierten Seele geschrieben. Das stimmt nach heutigen Kenntnisstand nicht. Remarque war Schriftsteller und sein Werk ist das eines Profis. Ein Glück. Denn hier sitzt jedes Wort, jeder Satz, jedes Kapitel-Ende. Zum Beispiel, als er den Zählappell nach einer weiteren Schicht an der Front beschreibt:

 

"Der Morgen ist grau, es war noch Sommer, als wir hinausgingen und wir waren 150 Mann. Jetzt friert uns, es ist Herbst, die Blätter rascheln, die Stimmen flattern müde: ein, zwei drei, vier. Bis 32. Es sind noch zweiunddreißig Mann."

 

Oder als Paul seinen Freund Franz im Lazarett besucht, das Bein amputiert, den Tod vor Augen:

 

"Er ist nicht der erste, den ich so sehe; aber wir sind zusammen aufgewachsen, da ist es doch etwas anderes."

 

Nach und nach verschwinden sie alle, tot, zum Krüppel geschossen und ausgemustert, in der Irrenanstalt. Nur Paul ist noch übrig, und es liegt in der Luft, dass der Krieg bald vorbei ist. Das Ende des Buches erleben wir Leser aber allein: denn auch Paul Bäumer fällt, wird totgeschossen,

 

"im Oktober 1918*, an einem Tage, der so ruhig und still war an der Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden". * Ein paar Tage vor dem Waffenstillstand (für alle, die die Zahlen noch nicht so parat haben)

 

Fazit

Ein Klassiker, der so jung und lebendig ist, wie manch modernes Buch es nicht ist. Wer es gelesen hat, trifft den 19-jährigen Paul Bäumer immer wieder. Zum Teil, weil viele neuere und ganz neue Bücher seine Erlebnisse zum Teil wortwörtlich gecovert haben. Aber auch, weil der Leser ihm so nah ist, dass man automatisch sein Gesicht vor Augen hat, sobald man nur etwas vom ersten Weltkrieg liest oder hört. Und sei es nur so eine unvorstellbar hohe Zahl wie 10 Millionen tote Soldaten. Einer davon war Paul.

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