Feldpost für Pauline

Polizisten kommen in die Wohnung der 17-jährigen Mila und ihrer Mutter; die beiden sind arglos, lassen sie die Räume durchsuchen, bieten sogar Kaffee an. Dann ruft der eine:

 

"Chef, ich glaube, wir haben was gefunden!"

 

Mit dieser Szene beginnt das Buch, eine Art Prolog. Denn chronologisch gehört sie eigentlich in die Mitte des Buches, da taucht sie in der Tat auch noch mal auf und dann wird man sie auch verstehen – was einem am Anfang nicht recht gelingen will.

Was man aber versteht ist: hier geht es nicht nur um den Krieg und ein Mädchen, sondern auch um einen Krimi und ein Mädchen. Und der Erste Weltkrieg ist hier wirklich nur Rahmen, Kulisse, Hintergrund, sehr präsent, denn natürlich bestimmt er das Tagesgespräch zwischen Eltern und Kindern, Freundinnen und Freunden, in der Schule. Auch der Krimi wäre ohne Krieg ein anderer, es geht um Vaterlandsliebe und -verrat, zumindest vordergründig. Und dass Mila völlig unschuldig hineingezogen wird, weil sie einen französischen Nachnamen hat, wäre heute kaum denkbar. Aber damals war Frankreich seit Jahrzehnten der "Erbfeind" und je näher der Krieg kommt, desto öfter und heftiger werden in Deutschland lebende "Froschfresser" angefeindet.

Ansonsten spielt der Krieg nur die Rolle, die er im Leben dieser Mila eben spielt. Der Autor hat nicht versucht, die komplette historische Erkenntnislage in seinen Roman zu verpacken – anders als in einigen Büchern, die auch neu zum Thema erschienen sind, bei denen man das "Herangeführt werden an die Thematik" aber doch deutlich spürt. Immerhin, über die Thematik wird man bei solchen Büchern ganz gut informiert. Bei diesem bleiben Lücken. Aber dafür ist´s ja auch ein Roman und kein Sachbuch. (Und wer seine Lücken füllen will: Mehr Bücher stellen wir im Special auf der Jugendbuch-Couch und auch auf der Kinderbuch-Couch vor.)

Sondern eben ein Krimi: Mila trifft eine Frau, Sheena. Die hat den vom Vater organisierten Bräutigam mit Genuss abserviert und der ist nun sauer. Und zwar doppelt, weil sie auch noch gegen den heraufziehenden Krieg ist, anders als er, und sich öffentlich dazu bekennt. Ein als Franzosenhasser bekannter Oberlehrer stirbt an einem Schlaganfall, als Mila mit ihm diskutiert. Kann passieren, aber ein paar Tage später kommt die Durchsuchungsszene, Milas Mutter wird verhaftet. Und dann wird "alles in einen Topf geworfen, tüchtig umgerührt und aufgekocht", so erklärt Sheena es Mila, die ähnlich wie der Leser erst mal nicht versteht, was das alles soll und miteinander zu tun hat, und "herauskam eine Suppe" mit der ihr Ex-Verlobter sie vergiften will und indem er ihre Freunde quält, will er sie zusätzlich demütigen. Sheenas Vater macht mit, aus grenzenloser Enttäuschung, dass er nur eine Tochter hat und dann auch noch eine so renitente.

Es ist ein bisschen wie beim Tatort: Man muss über zum Teil hanebüchene Logiksprünge hinweg sehen, um die Spannung zu genießen. Aber spannend ist es!

Dann gibt es noch Fritz, den Freund von Mila, mit dem aber noch nicht mal ein Kuss gelaufen ist und der sich mehr und mehr zu Rasmus hingezogen fühlt. Fritz ekelt sich deshalb vor sich selbst, denn damals war man nicht schwul. Sondern krank, pervers, ein warmer Bruder und, weil es verboten war, außerdem ein Krimineller. Er kann mit der ganzen Kriegsbegeisterung - anders als viele Jungen in seinem Alter - eigentlich nichts anfangen, das wird in eingestreuten Gesprächen zwischen den Jugendlichen deutlich. Meldet sich aber trotzdem so schnell wie möglich an die Front, weil er auf Reinigung und Heilung in den "Stahlgewittern" hofft.

Diese Haupt-Handlungsstränge bestehen praktisch nebeneinander, ein bisschen wie bei einer Vorabendserie, in der immer zwischen zwei, drei Schauplätzen hin und her geschaltet wird. Was irritiert ist, dass Mila in fast jeder Szene dabei ist, und von einer Sekunde auf die andere komplett anders ist: eben hat sie sich noch von ihrem neuen Freund Wieland – auf den ersten Seiten Poser mit dickem Auto, aber in echt totaaal anders – entjungfern lassen und denkt versonnen darüber nach, wie sie die "summenden Tierchen in ihrem Schoss" nennen könnte; und eine halbe Seite weiter sitzt sie verstört bei ihrer abgehärmten Mutter in der Besuchszelle.

Insgesamt ist die Lektüre stolperig. Man könnte es darauf schrieben, dass das Buch "Anspruch" hat. Den hat es, keine Frage. Aber an vielen Stellen scheint es nur sehr "huschhusch" lektoriert worden zu sein – vielleicht, um diesen Krimi und Erwachsenwerd-Geschichte rechtzeitig zum 100. Jahrestag als Weltkriegs-Roman vermarkten zu können. Jedenfalls: Rechtschreibfehler, falsche Trennungen, eine dunkeläugige Frau, die auf der nächsten Seite helle Augen hat, Menschen, die irgendwie wichtig sind, dann aber nie wieder auftauchen, Szenen und Worte, die sich ein paar Mal zu oft wiederholen und dann einfach nur noch nerven: Fritzens schöner Mund, Rasmus weiche Lippen, und dass Wieland aussieht wie Dante: seine großen, runden, sehr dunklen Augen, sein dantisches Profil, seine Haare wie Dante (womit übrigens nicht der Fußballer gemeint ist, sondern ein toter italienischer Dichter). Gegen Ende zieht das Tempo der Geschichte dann an. Der Krieg kommt, in kurzen, knappen Sätzen huschen die ersten Wochen vorbei: Wieland ist Soldat, was aus ihm und ihrer Beziehung wird, weiß Mila nicht.

Fazit

Mehrere Handlungsstränge, viele Gefühle, Liebe, Zweifel und Hass, politische, gesellschaftliche, historische Themen, Erwachsenwerden, Homosexualität, Fremdenhass und auch noch die ersten Wochen des Ersten Weltkriegs – dieses Buch ist gehaltvoll und hat "Anspruch", wie man so schön sagt. Ob es den eigenen Ansprüchen als Leser oder Leserin an ein gutes Buch genügt, muss jeder selbst entscheiden.

Feldpost für Pauline
Feldpost für Pauline
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8101

Jugendbuch-Couch Rezension vonJun 2014

Frontbericht, Familiensaga, Lovestory

Was fällt euch ein, wenn Ihr "Erster Weltkrieg" hört? Ein paar Stichworte vielleicht, wie z.B. Steckrüben, Stellungskrieg, Verdun, deutscher Kaiser und dass er gerade genau 100 Jahre her ist. Ob jemand aus eurer Ahnenreihe dabei war, Opa, Ur-Opa, Ur-Ur-Opa, keine Ahnung? Genauso jedenfalls geht es der 14-jährigen Pauline, die die Hauptperson in diesem Buch ist. Es interessiert sie auch gar nicht – bis sie sich für die Zeitung fotografieren lassen muss, weil zu Hause ein fast 100 Jahre alter Feldpostbrief angekommen ist, der bei der Renovierung eines französischen Postamts gefunden worden ist. Abgeschickt wurde er 1916 in der Nähe der französischen und blutig umkämpften Festung Verdun, mitten im Ersten Weltkrieg, von ihrem Ur-Opa an ihre Ur-Oma und dann ist der Brief verloren gegangen.

Pauline wird neugierig und fragt ihre Oma Lieschen aus, die Tochter der beiden. Oma Lieschen, eine patente, zigarrenrauchende alte Dame hat eine ganze Kiste voller Feldpostbriefe und Fotos und weiß noch viel, was ihre Eltern ihr erzählt haben. Und nach und nach erzählt sie jetzt alles ihrer Enkelin. Wie die Ur-Oma, die übrigens auch Pauline hieß, sich im Sommer 1914 in einen jungen, stillen Cello-Spieler verliebte und der sich in sie. Und der sich freiwillig wie viele andere an die Front meldete – noch bevor sich die beiden auch nur geküsst haben.

Die Fronterlebnisse sind in Wilhelms Feldpostbriefen verpackt. Wie es für die Frauen zu Hause war, weiß Oma Lieschen aus dem, was sie von ihrer Mutter erzählt bekommen hat; und die politischen und zeitlichen Fakten steuert sie aus ihrem Wissen bei. Einige Szenen – der Drill in der Kaserne, die widerlichen Ratten, die alles fressen, vom Proviant bis zum toten Soldaten, der berühmt gewordene Weihnachtsfrieden im ersten Kriegswinter, als sich englische, deutsche und französische Soldaten einen Tag lang nicht beschießen, sondern zwischen den Schützengräben Lieder singen und Fußball spielen – ähneln sehr denen aus Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues", haben aber längst nicht diese brutale Intensität. Vielleicht durch die bewusst geschaffene Distanz. Dort ist der Leser mit im Schützengraben, hier erfährt er aus Briefen und weitergegeben Erinnerungen, wie es war. Sowieso ist das Buch trotz des traurigen Hauptthemas sehr unterhaltsam. Denn es geht nicht nur um den Krieg.

Es geht auch viel um Paulines eigenes (Liebes)-Leben, dass ein bisschen in Unordnung ist. Sie hat Stress mit ihrem Freund, und will aufhören mit Cello zu spielen – obwohl sie so gut ist, dass sie mit der Musikschule Auftritte hat und Wettbewerbe; oder gerade deswegen, denn Lampenfieber, Leistungsdruck und Versagensängste werden ihr zu viel.

Und es geht auch viel um die Familiengeschichte. Wilhelm schreibt seiner Pauline nicht nur über den Krieg, die beiden nutzen die kurzen Fronturlaube auch zum Heiraten; ein Kind ist unterwegs und dann wird dieses Infotainment-Buch endgültig zur Schnulze, die man genießen darf, wenn man Schnulzen mag: Wilhelm ist mit einem Spähtrupp in einem zerschossenen Dorf, um Essen zu suchen, und sie finden nicht nur Würste und Kartoffeln, Eier und Wein, sondern auch ein Cello; er spielt, er vergisst alles, ist versunken und bekommt nicht mit, dass Franzosen das Haus beschießen, dass seine Kameraden fliehen – aber der französische Soldat lässt ihn spielen, weil er so lange keine Musik gehört hat und es so schön ist. Und als Wilhelm sein Stück zu Ende gespielt hat, sitzen sich zwei Feinde "gegenüber und beide hatten den Wunsch, auf den anderen zu schießen, verloren". Das Buch ist auch als Hörspiel erhältlich, in leicht abgewandelter Form, aber mit versierten Sprechern packend inszeniert.

Fazit

Der Erste Weltkrieg gut verpackt in eine Familiensaga und eine Lovestory aus dem 21. Jahrhundert. Ein bisschen schnulzig vielleicht und manchmal etwas hölzern und hoppladihopp, aber es ist ja auch viel unterzubringen auf schmalen 96 Seiten. Hinterher weiß man mehr als nur ein paar Schlagworte und hat bestenfalls Lust, selber mal nach Erinnerungen in der Familie zu forschen.

Feldpost für Pauline

Maja Nielsen, Gerstenberg

Feldpost für Pauline

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