Angst vor der Entdeckung
Nanou ist entsetzt. Ein fremder Junge sitzt in ihrer Höhle, die sie doch so sorgsam verborgen hat. Es geht ihm schlecht, er ist verletzt. Das 16jährige Mädchen weiß, dass Leo sterben wird, wenn sie ihm nicht hilft. Aber ihre Mutter hat ihr verboten, sich einem Menschen zu zeigen. Denn niemand hat eine Ahnung davon, dass Nanou hier lebt. Hin und hergerissen zwischen der Furcht, entdeckt zu werden und dem Verlangen, Leo aus seiner misslichen Lage zu helfen, versorgt Nanou ihn erst mal heimlich mit Lebensmitteln und versucht, die Wunden zu behandeln. Leo spürt, dass irgendetwas mit Nanou anders ist. Er weiß aber auch, dass sie seine einzige Hoffnung ist. Denn in der Höhle hat Leo mit seinem Handy keinen Empfang. Er kann niemanden um Hilfe bitten. Und niemand weiß, wo Leo ist.
Er war alleine auf Bergtour, als ihn das Gewitter überraschte und er versuchte, querfeldein zum Ziel zu kommen. Je näher sich Leo und Nanou kommen, desto stärker wird bei beiden das Gefühl, den anderen zu brauchen. Bis das Mädchen eine schwere Entscheidung fällt.
In ganz kurzen Kapiteln, die sie jeweils aus der Sicht eines der Protagonisten schreibt, erzählt die belgische Autorin Marian de Smet die ungewöhnliche Geschichte eines Mädchens, das nicht existieren darf und eines Jungen, der lernen muss, sich auf die Hilfe von anderen zu verlassen und seinen Ehrgeiz manchmal auch zu vergessen. Diese Form der Erzählung hat den Vorteil, dass die Geschichte aus allen Perspektiven beleuchtet wird und die jungen Leserinnen und Leser erfahren, wie es in den beteiligten Personen aussieht. Nebst Nanou und Leo ist dies vor allem David, der sich Gewissenbisse macht, weil er Leo auf dessen Bergtour nicht begleitet und nun keine Ahnung hat, wo der Freund geblieben sein könnte. Die Kurzkapitel haben jedoch den Nachteil, dass sich der rasante Perspektivenwechsel etwas lähmend auf den Verlauf der Geschichte legt und keinen richtigen Lesefluss zulassen möchte.
Marian De Smet setzt die Phantasie ihrer Leserschaft sehr geschickt ein, um Spannung zu erzeugen. Sie lässt vieles offen, tönt einiges so an, dass sich die Leser unvermittelt ein eigenes Bild zurecht legen. So wird nicht richtig klar, welche Rolle Nanous Freund und Spielgefährten Vincent tatsächlich zukommt, ob er real oder nur fiktiv ist und weshalb er Nanous Mutter ein solcher Dorn im Auge ist. Obwohl davon auszugehen ist, dass Marian De Smet Vincent absichtlich als nicht greifbares Wesen skizziert, ist es doch eher verwirrend bis störend, ihn nicht richtig in den Ablauf der Geschichte integrieren zu können. Unklar bleibt sehr lange auch, weshalb Nanous Mutter ihre Tochter versteckt hat. Denn eine allgemeine Menschenscheu kann nicht dahinter stecken, schon verhältnismäßig früh schildert die Autorin den recht unverkrampften Umgang der Mutter mit einem Besucher.
Neben der ganz persönlichen Geschichte, die die Protagonistin als dunkles Geheimnis umgibt und auch für eine gehörige Portion Spannung sorgt, wendet sich die Autorin auch einigen durchaus aktuellen Themen zu. So ist die Frage der Schuld ein wiederkehrendes Thema, das sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht. David macht sich Vorwürfe, er muss auch die Vorwürfe von Leos Familie aushalten. Die Leser wissen, dass der Junge keine Gefahr darin gesehen hat, seinem Freund die Freiheit des alleinigen Aufstiegs auf eine Almhütte zu gewähren. Erst als Leo nicht zurück kehrt, beginnt sich David Sorgen zu machen, handelt dann aber zunächst ungeschickt, will er doch seine aufkommenden Schuldgefühle beiseite drängen.
Ein zweites Thema ist der Irrglaube, dank Handy vor allen Eventualitäten geschützt zu sein. Nicht nur die Höhle, in die David gestürzt ist und die ihn wie ein Gefängnis umgibt, stellt sich als Hindernis dar. Zwar ist der mangelnde Handyempfang hier verantwortlich dafür, dass Leo keine Hilfe rufen kann, doch noch viel gravierender ist der Umstand, dass er keine Ahnung hat, wo er sich denn überhaupt befindet.
FAZIT
Mit ganz wenigen und einfachen Mitteln kann Marian De Smet Stimmung erzeugen und eine Geschichte erzählen, die gleichermaßen fasziniert wie irritiert. Die Figuren sind gut gewählt und lassen genügend Spielraum für die eigene Phantasie, ohne dass sie deswegen an Konturen verlieren würde. Der Roman warnt zudem auf eine eindrückliche Art vor Alleingängen in den Bergen, ohne deswegen in Verdacht zu geraten, schulmeisternd zu sein.
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