Ausländer

  • Baumhaus
  • Erschienen: Januar 2012
  • 0
  • Baumhaus, 2009, Titel: 'Ausländer', Originalausgabe
Ausländer
Ausländer
Wertung wird geladen
Felix Oepping
10101

Jugendbuch-Couch Rezension vonAug 2013

Die spannendste Geschichtsstunde meines Lebens!

Polen 1941: Bei der deutschen Invasion hat Piotr Bruck seine Eltern verloren und kommt in ein Waisenhaus. Nun wird er inspiziert und für arisch befunden, er kommt zu einer Pflegefamilie in Nazi-Deutschland, in Berlin. Die Kaltenbachs sind glühende Nazis und auch wenn Peter, wie er von nun an heißt, sich bei ihnen wohlfühlt, kann er sich doch nie voll und ganz mit der Ideologie und der Stimmung im Land anfreunden, bleibt stets kritisch und folgt dem Führer nicht blind. Er verliebt sich in Anna, die den Eindruck eines perfekten deutschen Nazi-Mädchens macht, doch als er sie besser kennenlernt, merkt er, dass sie so denkt wie er. Sie behalten ihre geistige Freiheit und riskieren damit sehr viel, eventuell sogar ihr Leben.

Dieser historische Roman basiert auf den wahren Begebenheiten des Jahres 1941 und den Umständen in Deutschland zu der Zeit. Piotrs Eltern sind ausgewanderte Deutsche, er lernt von ihnen Deutsch und wird erzogen, Macht stets zu hinterfragen und ihr kritisch gegenüber zu stehen. Für die Nazis empfinden sie nur sehr wenig Sympathien. Als sie eines Tages eine befreundete Familie besuchen und getötet werden, bricht für Piotr eine Welt zusammen. Er wird von den deutschen Soldaten in ein Waisenhaus gesteckt und der Hof seiner Familie wird von den Deutschen beschlagnahmt, nicht einmal frische Kleidung darf er noch holen.

Als alle Jungen im Waisenhaus inspiziert und auf ihre "Rasse" und auf ihr "arisches Potential" vermessen werden, kann Piotr gleich doppelt punkten. Er spricht nahezu perfektes Deutsch und entspricht dem Idealbild eines deutschen Jungen: Blonde Haare, blaue Augen und die Abmessungen des Schädels passen auch in das gewünschte Bild. Die, die nicht diesem Bild entsprechen, haben weniger Glück und müssen im Waisenhaus bleiben oder werden gar in eines der Arbeitslager verschleppt. Für Piotr allerdings wird eine Pflegefamilie in Berlin gesucht und mit den Kaltenbachs auch gefunden. Er wird also als "Volksdeutscher" "heimgeholt ins Reich". Er muss seinen Namen ändern und heißt fortan Peter Bruck, das klingt deutscher und so müssen die Kaltenbachs keine Fragen der Nachbarn oder der Behörden fürchten.

Die Kaltenbachs, das sind neben den Eltern auch drei Töchter, davon eine in Peters Alter (14 Jahre), eine älter, eine jünger. Dort regiert der Luxus verglichen mit seinem "alten" Leben mit seinen Eltern und Peter schämt sich, dass es ihm in Berlin sogar gut gefällt und er die Zuneigung der Familie als angenehm empfindet. Das erste Mal seit dem Einmarsch der deutschen Truppen und dem Tod seiner Eltern fühlt er sich zumindest etwas geborgen und erneut als Teil einer Familie. Mehrmals in der Woche geht Peter zum deutschen Jungvolk, auch dort gefällt es ihm anfangs, jedoch findet er den ständigen Bezug auf den Krieg und die Euphorie seiner Gruppenkumpanen bezüglich des Krieges übertrieben und findet sich selbst nicht wieder in dem Wunsch, möglichst früh in den Krieg zu ziehen und für das Vaterland zu kämpfen. Diese Befremdung verstärkt sich mit der Zeit und als er in die Hitler Jugend kommt. Er hätte nicht gedacht, dass die mustergültig wirkende Anna, die er einmal auf dem Nachhauseweg anspricht, ähnlich tickt und so entwickelt sich eine Freundschaft und Liebe zwischen den beiden, sie machen sich über übertriebene Nazis lustig und hören verbotene Radiosender. Piotr entfremdet sich immer mehr von den Kaltenbachs und eines Tages weiht Anna ihn in ein ganz besonderes und lebensbedrohendes Geheimnis ein.

Eingebettet in die wahre Situation in Polen und Deutschland zu der Zeit, erzählt Paul Dowswell eine spannende Geschichte über "Hundertprozentige" und "Abweichler", über Fanatismus und Freidenker, über Masseneuphorie und Individualisten. Dabei versteht es der Autor hervorragend, das Buch nicht zu einer reinen Geschichtsstunde werden zu lassen, sondern bleibt trotz seiner sehr detaillierten und gut recherchierten Beschreibungen stets in einem flüssigen Erzähltempo. Vielmehr wird durch die Handlungen der Personen und die lebhafte Beschreibung der Stimmung im Land deutlich, wie sich das Leben zur Nazizeit abgespielt hat. Gewissermaßen ist das Buch ein Abenteuerroman über einen Jungen, der ein Abenteuer in einem fremden Land erlebt und mit der ständigen Angst davor, abgeschoben zu werden, leben muss. Doch hinter dieser schon sehr guten Geschichte steckt noch mehr: Eine überaus lebendige Lehrstunde in Geschichte, ein außergewöhnliches Porträt einer Zeit, die in Deutschland nicht vergessen werden sollte, damit sie sich nie wiederholt.

Im Verlauf der Erzählung wird klar, dass jeder Einzelne ganz nachvollziehbare Intentionen hat und durch die Propaganda, die Riten und Massenversammlungen, die ständige Gleichschaltung mit Anderen in eine Richtung gedrängt wird, die zwar Reichtum und Ansehen verspricht, aber auf Kosten von Menschenrechten gehen, indem Menschen wie Tiere behandelt werden. Das offene Geheimnis der Konzentrations- und Vernichtungslager ist genauso Teil der Geschichte (sowohl der wahren Geschichte Deutschlands als auch von "Ausländer") wie Menschen, die Mut beweisen und im Angesicht des Todes zu ihren Idealen stehen, etwa indem sie Juden beherbergen und/oder helfen.

In meinen Augen ist dieses Buch ein ganz besonderes, ist ab 14 Jahren für jeden geeignet und sollte auch von Erwachsenen und überhaupt von jedem gelesen werden. Lebendiger als ein Geschichtsbuch, spannender als viele andere Romane und lehrreicher als 99% aller Romane ist "Ausländer" eine ganz klare Empfehlung. Mir hat der Sprachstil, der unaufgeregt und authentisch ist, genauso gefallen wie das historische Umfeld und die Tiefe der einzelnen Personen. Stets überraschend und nicht vorherzusehen, dabei aber nicht willkürlich oder beliebig, vollzieht sich die Geschichte, ist dabei gnadenlos und teils grausam, dadurch aber nur noch realistischer und man fühlt sich "voll drin".

Fazit:

Ich habe selten einen besseren historischen Roman gelesen und mit solcher Freude beim Lesen eines Romans so viel gelernt. Eine klare Empfehlung und die spannendste Geschichtsstunde meines Lebens!

Ausländer

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Ausländer«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

LGBT
in der Jugendliteratur

Alljährlich wird im Juni der Pride Month gefeiert, um die Vielfalt unserer Gesellschaft hervorzuheben. Weltweit erheben Schwule, Lesben, Transgender, Bisexuelle und Menschen anderer sexueller Orientierungen ihre Stimme für Toleranz und stärken so die Gemeinschaft. LGBTQ+ ist schon lange kein Randthema mehr in der Jugendliteratur, sondern ein zentraler Aspekt zahlreicher Neuerscheinungen.

mehr erfahren