Die Gesichtsausdrücke anderer Menschen sind ihm ein Buch mit sieben Siegeln.
Der 15-jährige Kieran Woods ist nicht wie andere Jungs - aber er ist auch kein "Downy". Mit "meinen Chromosomen ist alles in Ordnung", sagt er jedem, der das behauptet. Kieran ist klug und ein durch und durch friedliebender Mensch. Auch wenn er in seiner eigenen Welt lebt, bedeutet das nicht, dass er von "unserer" nichts mitbekommt, im Gegenteil: Es ist seiner guten Beobachtungsgabe und seinem Zeichentalent zu verdanken, dass er sich und seine Mutter aus dem größten, vorstellbaren Schlamassel herausholen kann.
Und dazu braucht es nicht nur Mut und Verstand, sondern auch ein sehr großes Herz. Und das hat Kieran, auch wenn der in seinen Reaktionen vielleicht etwas kindlich-naiv zu sein scheint. Das macht sein Leben nicht gerade einfach. Zwar hat er eine eigene Betreuerin in der Schule, die nur für ihn da ist und mit ihm so manches Missverständnis, das in Kierans Kopf entsteht, ausräumen kann, doch Kieran gehört eben nicht dazu. Er hat vielmehr gelernt, wann es besser ist, sich unsichtbar zu machen, keine Zielscheibe für die groben, dümmlichen Schulhofmachos zu liefern.
Ein liebenswerter, außergewöhnlicher Junge, der dieser Welt ausgeliefert zu sein scheint
Aber nicht genug, dass Kieran "draußen" den dummen Attacken und Vorurteilen der Mitmenschen ausgesetzt ist, zuhause ist es noch schlimmer. Obwohl Kieran seine Geschichte scheinbar gleichmütig erzählt und ebenso die unmenschlichen Attacken seines Stiefvaters und Stiefbruders zu ertragen scheint, bemerkt der Leser schnell, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Als "Außenstehender", der man ja als Leser ist, obwohl sich Kieran ganz nahe an uns heranwagt und seine Geschichte erzählt, kann man nicht begreifen, dass seine Mutter nicht einmal ihren eigenen Sohn beschützt. So gut wie nie bekommt Kieran genug zu essen - das gute Essen, das was auch Kieran gerne essen würde, bringt seine Mutter abends von der Arbeit mit, aber er darf nur zusehen, wie sein Steifvater und dessen Sohn genüsslich speisen. Ein falsches Wort von Kieran und es setzt Prügel. Sogar ein falscher Blick kann reichen.
Kierans familiäre Situation ist typisch für häusliche Gewalt gepaart mit Alkoholismus. Der Stiefvater isoliert Mutter und Sohn von der Außenwelt, übt ständig Druck aus, indem er ihnen Angst macht. So kommt es, dass Kieran seine Großmutter schon lange nicht mehr sehen durfte. Er sehnt sich sehr nach ihr, weil sie ihn immer liebevoll behandelt und sich schützend vor ihn und seine Mutter gestellt hat.
Das ist die eine Sehnsucht in Kierans Leben. Die andere: Er träumt davon einmal Kriminalreporter zu werden. Er zeichnet sehr gut und hält alles in seinem Skizzenbuch fest. Auch den Tod eines Obdachlosen, der im nahegelegenen Fluss gefunden wird.
Die Polizei denkt, dass der Mann zu betrunken war um zu sehen wohin er läuft, doch Kieran hat da einen ganz anderen Verdacht. Er schreibt dem Kriminalreporter von den Sky News von seinen Recherchen und bekommt tatsächlich eine Antwort! Das setzt in Kieran neue Energie frei und er geht fortan sehr entschlossen vor: Er will den Fall aufklären, seine Oma finden und herausfinden, wer der Mann im Obdachlosenheim ist, der ihn immer so merkwürdig ansieht. Und was hat es mit den Geburtstagskarten in Mums Handtasche auf sich, die alle für ihn waren, von denen er aber nicht eine bekommen hat?
Warme, gehaltvolle Sprache und eine Geschichte, die am Ende richtig Fahrt aufnimmt
Kim Slater erzählt aus der Perspektive von Kieran - einem liebevollen, warmherzigen Jungen, der versucht die Welt zu verstehen, dem aber gleichzeitig alles Schlechte und Böse fremd zu sein scheint. An keiner Stelle wird erwähnt, welche "Krankheit" Kieran hat - etwa das Asperger-Syndrom - er ist einfach so. Und ich finde das auch richtig so. Denn Kieran ist, wie er ist. In den Gesprächen mit seiner Betreuerin in der Schule, hatte ich das Gefühl, als würde sich Kim Slater selbst mit ihrem Schützling unterhalten, um zu ihm von außen Verbindung aufzunehmen, zu reflektieren. Im Verlauf der Geschichte lässt sie ihn schließlich reifen und erkennen, dass es ganz in Ordnung ist, wütend auf diejenigen zu sein, die ihm und anderen das Leben so schwer machen. Er erkennt die Ungerechtigkeiten, versteht, was es mit ihm macht und dass es in Ordnung ist, für sein Glück zu kämpfen, wenn andere dazu zu schwach sind - wie z.B. seine Mutter, die längst aufgegeben hat. Kim Slater verwendet eine einfache Sprache, kurze Sätze - die aber durchaus prägnant sind. Die Geschichte macht auf Anhieb neugierig, denn vieles bleibt zunächst angedeutet und klärt sich erst nach und nach.
Je klarer man als Leser jedoch alles durchschaut, desto mehr weiß man, wie groß die Gefahr ist, in der Kieran schwebt. Zum Glück scheint er - und sein neu gewonnener Freund "Karwana" - das gar nicht zu ahnen.
Auch schön zu lesen sind Kierans ganz persönliche Betrachtungen, seine Perspektive auf unsere Welt. Es scheint, als würde ein Außenstehender - wie ein Außerirdischer der die Menschen nicht immer versteht, aber liebt - auf unser tägliches Handeln blicken und sich seinen ganz persönlichen Reim darauf machen. Sein Zugang liegt in der Analyse, in der Kunst, in dem Hinterfragen von vermeintlich Selbstverständlichem. Vielleicht verhilft ihm genau das dazu, gleich mehrere Verursacher seiner Probleme ausfindig zu machen und sie am Ende sogar auszuschalten, indem er sich die richtige Unterstützung holt. Kieran weiß genau, dass er Teil dieser Gesellschaft ist und ihm ein Platz darin gehört.
Das klingt nach einem spannenden Ende und das ist es auch. Beginnt die Geschichte auch recht zögerlich und verharrt lange in der Phase der Hilflosigkeit, lösen sich am Ende viele Knoten, die alle miteinander - irgendwie - verbunden waren.
FAZIT
Eine sehr lesenswerte Geschichte über einen ungewöhnlichen Jungen. Kim Slater bringt uns Kieran durch ihre warmherzig-prägnante Sprache so nahe, dass man ihn bis zum Schluss nicht mehr aus den Augen lassen will.
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