09.2012 Interview mit Elke Reichart

Jugendbuch-Couch:
Liebe Frau Reichart, schön, dass Sie sich Zeit für uns nehmen. Wir sind auf Ihr Buch "gute-freunde-boese-freunde - leben im web" aufmerksam geworden. Verraten Sie uns eingangs kurz, zu welcher Generation von Internetnutzern Sie gehören? Sind Sie mit dem PC und Internet aufgewachsen? Gehören die Nutzung des Internets und der Umgang mit dem PC zu ihrem privaten und beruflichen Alltag? Was machen Sie beruflich? Bitte stellen Sie sich uns doch kurz vor.

Elke Reichart:
Liebe Couch-Redaktion, danke für Euer Interesse! Ich bin Journalistin und Autorin,  schreibe für Tageszeitungen, Magazine, mache Filme fürs Fernsehen und Bücher für dtv-Reihe Hanser.  Immer über aktuelle Themen, denn die interessieren mich am meisten - im Buch "Bodytalk" zum Beispiel ging es um den riskanten Kult um Körper und Schönheit, für "Deutschland, gefühlte Heimat"  bin ich seinerzeit  durch das Land gereist und habe Interviews mit zwölf Jugendlichen mit dem sogenannten Migrationshintergrund gemacht.

Und nun also das Thema "Freundschaft in Zeiten des Internets" - wie verändern  Social Communities unser Leben? Derzeit eine der aktuellsten und gleichzeitig brisantesten Fragen, für die jeder von uns seine ganz persönliche Antwort finden muss. Ich hoffe, mein Buch kann dabei helfen.

Ich selbst gehöre zur Generation der "Digital Immigrants", also der Eltern der "Digital Natives" - mein Sohn ist 24 Jahre alt, er ist mit dem Internet aufgewachsen, während ich als junge Auslandskorrespondentin  noch meine Reportagen per Telefon und Fax an die Redaktion durchgegeben habe.  Inzwischen gehören PC und Internet  längst zu meinem Alltag, dazu Smartphone und Tablet mit allen möglichen Apps, eigentlich gibt es für mich seit langem gar keinen Unterschied mehr zwischen real und virtuell und damit auch zwischen privat und beruflich.  Für mein Buch habe ich mir einige Co-Autoren der Generation Internet geholt: Sehr gute Schreiber, die über ihre Erfahrungen mit Social Networking  berichten. 

Jugendbuch-Couch:
"gute-freunde-boese-freunde" beschäftigt sich mit dem Leben im Web und behandelt unter anderem intensiv den Begriff Freundschaft. Von Aristoteles’ Definition von Freundschaft bis zur Facebook-Freundschaft spannt sich dabei der Bogen. Was bedeutet Freundschaft für Sie? Sind Sie selbst Mitglied in einer Online-Community?

Elke Reichart:
Ich bin in "Facebook" seit dem Beginn meiner Recherchen für das  Buch und war zunächst überwältigt von den vielen Freunden aus aller Welt, die plötzlich wieder in meinem Leben auftauchten. Wobei mir natürlich klar war, dass der Kameramann aus meiner ZDF-Zeit oder der  Ex-Kollege aus Südafrika keine "richtigen" Freunde waren, sondern bestenfalls gute Bekannte.

In meinem Buch geht es ja ausführlich um die Frage, was Freundschaft eigentlich ist - jeder kann sich selbst ein Bild über seine Beziehungen machen, wenn er zum Beispiel die Liste der Freundschaftsmerkmale abhakt:  Ehrlichkeit, Gleichheit, Gegenseitigkeit…  Aristoteles unterscheidet zwischen "Nutzfreundschaften",  bei denen es um gemeinsame Ziele oder Zwecke geht,  "Lustfreundschaften",  bei denen das Vergnügen im Vordergrund steht,  und "Charakterfreundschaften", die auch Trennungen oder  Krisen überdauern.  Ich würde also die meisten meiner Facebook-Kontakte als "Nutzfreunde" bezeichnen, ohne sie damit abwerten zu wollen, und meine - wenigen - engen Vertrauten, auf die ich mich immer verlassen kann, als "Charakterfreunde".  Mit den Letzteren kommuniziere ich übrigens nie über Facebook, nur in der realen Welt.

Auf meinen Lesungen frage ich meine Zuhörer immer, wie viele "wirkliche" Freunde sie haben - also Menschen, zu denen sie zu jeder Tages- oder Nachtzeit mit ihren Sorgen kommen könnten. Dann wird erst intensiv nachgedacht und schließlich kommt als Antwort: "Drei!" oder "Zwei!",  ganz selten auch "Vier!". Das ist bei  Jugendlichen das Gleiche wie bei Erwachsenen.

Alle Freundschaften haben gemeinsam, dass man sie pflegen muss - "Charakterfreunde" natürlich am intensivsten. Aber 320 Facebook-Freunde pflegen - wie soll das denn funktionieren? Mit ständigen Like-Clicks, Kurz-Kommentaren, Geburtstagsgratulationen? Wer hat schon so viel Zeit? Das alles ist schwierig. Da sind Spannungen vorprogrammiert.

Jugendbuch-Couch:
Warum, glauben Sie, ist es genau der Begriff Freundschaft, der immer wieder in der Kritik steht?

Elke Reichart:
Vielleicht, weil jeder etwas anderes darunter versteht. Weil immer noch manche ihre Hunderte von Facebook-Freunde "for real" nehmen und dann enttäuscht sind über Oberflächlichkeit und mangelndes Interesse. Weil es so schwierig ist, das Gemeinte und das Geschriebene in einem Chat, einer Statusmeldung oder einem Posting richtig zu deuten. "Man sieht, hört und fühlt oft was anderes, als wirklich gemeint ist", erklärt die Studentin Elena im Buch. "Jedes Wort, das wir lesen oder im geschützten Raum unseres eigenen Zimmers in die Tastatur direkt in die SN-Öffentlichkeit hämmern, sollten wir auf die Goldwaage legen." Weil es "da draußen"  so viele falsche oder böse Freunde gibt. Weil, weil, weil … Mehr dazu im Buch.

Jugendbuch-Couch:
Jugendliche gehen heute als sogenannte Digital Natives wie selbstverständlich mit dem Internet und seinen vielfältigen Möglichkeiten um. Demnach haben sie in den meisten Fällen ihren Eltern einiges voraus. In Kapitel "Wenn ich Lehrer wäre oder Wie ich mir interessanten Unterricht vorstelle" kommen Schüler zu Wort. Dort liest man von unschönen Erlebnissen im Web. Einerseits absolut versiert, andererseits auf Hilfe angewiesen. Wie kann am besten verhindert werden, dass es für (jugendliche) Nutzer zu negativen Erlebnissen kommt? Durch Bücher? Oder ist es die Pflicht der Eltern, Ihre Kinder mit dem Web bekannt zu machen? Oder sollte der richtige Umgang mit dem Internet und vor allem mit Online-Communities zum Lehrplan gehören? Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?

Elke Reichart:
Das ist eine wichtige Frage! Hier die gute Nachricht zu Beginn:  Digital Natives sind klug! In den wenigen Monaten, in denen mein Buch nun auf dem Markt ist, hat sich schon viel verändert in der Social Community. Umfragen haben ergeben, dass sich das Sicherheitsbewusstsein der jungen User   erstaunlich rasch positiv entwickelt hat, dass sie misstrauischer geworden sind und Fallstricke und Betrüger früher erkennen. Trotzdem kommt es aber nach wie vor zu schlimmen Erlebnissen und sogar Katastrophen.

Das Netz hat  unsere Gesellschaft total verändert. Neu-Einsteiger müssen unbedingt so viele Hilfestellungen wie möglich bekommen, daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Bücher zum Thema sind extrem wichtig, aber zunächst einmal  ist die Familie als erste Anlaufstelle gefordert. Eltern sollten von Anfang an dabei sein, wenn ihr Kind einen Computer bekommt und ihm seinen ganz individuellen Weg aufzeigen. Als Ansprechpartner, als Kontroll-Instanz, idealerweise als Freund. Wenn ich das auf Eltern-Leseabenden sage, bekomme ich mitunter Antworten wie:  "Was, auch das noch? Job, Schule, Haushalt - das schaffe ich doch ohnehin kaum. Muss ich mich jetzt auch noch mit dieser Technik befassen?"  Ja, ist dann meine Antwort, ich weiß, es  ist anstrengend und schwierig, aber es geht  nicht anders: Man darf sein Kind  nicht allein lassen im Netz.

Überall im Land gibt es Lehrer, die im Unterricht hervorragende Aufklärungsarbeit zum Thema Internet leisten und Ansprechpartner für die Internetprobleme ihrer Schüler sind. Im Buch gibt es dazu  einige Beispiele.  Aber der Normalfall ist das leider noch nicht:  Es besteht viel Nachholbedarf.

Jugendbuch-Couch:
Gibt es so etwas wie ein oberstes Gebot oder eine oberste Regel, die im Netz eingehalten werden sollte?

Elke Reichart:
Das Gehirn eingeschaltet lassen! Selber denken!

Jugendbuch-Couch:
Welche Gefahr wird von vielen noch unterschätzt?

Elke Reichart:
Das Netz vergisst nichts. Selbst wenn Eintragungen oberflächlich gelöscht werden -  die Informationen existieren weiter und können auch wieder aktiviert werden. Daran denken, bevor  Bilder und Postings zum Beispiel bei Facebook veröffentlicht werden!

Jugendbuch-Couch:
Wie genau ist es zum Buch "gute-freunde-boese-freunde" gekommen? Was hat Sie zu diesem "Projekt" bewegt?

Elke Reichart:
Es war und ist auch heute noch  das brisanteste Thema unserer Gesellschaft,  und ich finde es immer noch wunderbar, dass mein Verlag unser Projekt, das total ohne erhobenen Zeigefinger auskommt, so schnell realisierte. 

Jugendbuch-Couch:
Von Cybermobbing bis zum Experiment "30 Tage ohne Facebook", von bösen Freunden bis zur Computerabhängigkeit - die Themenauswahl ist interessant und vielfältig.
Welches Thema ist Ihnen am wichtigsten? Welches finden Sie persönlich am interessantesten?

Elke Reichart:
Ach, das ist eine schwierige Frage! Bei jeder Geschichte habe ich mir genau überlegt, wie sie in das große Ganze passt, jede hat ihren Sinn und eine Message… Ich finde sie alle wichtig, jede einzelne. Schön, dass auch Ihnen die Themenauswahl gefällt!

Jugendbuch-Couch:
Wem würden Sie das Buch in erster Linie ans Herz legen?

Elke Reichart:
Die sogenannte Zielgruppe beginnt mit 14 Jahren,  während meiner Lesungen habe ich jedoch  festgestellt, dass auch Jüngere das Buch schon  gelesen hatten – die vor allem wegen der ziemlich realitätsnahen Schulgeschichten. Aber auch viele Erwachsene haben die "Freunde" gekauft, weil sie nach Informationen über die fremden Parallelwelten wie Facebook suchten. Oder Eltern, die ihre  Kids nicht mit dauerndem Nachfragen übers Netz belästigen wollen.

Jugendbuch-Couch:
Lohnt es eigentlich, darüber zu diskutieren, ob die Entstehung einer digitalen Kultur gut oder schlecht ist?

Elke Reichart:
Nicht mehr, denn die  Entwicklung ist nicht mehr rückgängig zu machen. Aber es wäre grundfalsch, nur die Gefahren zu beschwören und düstere Prognosen zu erstellen - die digitale Welt ist faszinierend und voller Möglichkeiten! Für mich, die ich früher immer wieder an Mauern stieß, ist sie stellenweise wie ein wahrgewordener Traum. So viele Informationen, so viele Möglichkeiten zum Engagement, so viele Möglichkeiten, Gleichgesinnte zu finden! Man muss nur etwas daraus machen.

Jugendbuch-Couch:
Was würden Sie Menschen raten, die rigoros jeden Kontakt mit der digitalen Welt ablehnen?

Elke Reichart:
Jeder, wie er mag, ich finde  das völlig in Ordnung. Allerdings weiß ich, dass viele Personalchefs stutzen, wenn der Bewerber nirgendwo im Netz dazugehört – ist er vielleicht nicht sozial kompetent? Passt er vielleicht gar nicht in unser Team?

Jugendbuch-Couch:
Die Neuen Medien halten mehr und mehr Einzug in die Jugendliteratur. Die Charaktere besitzen Smartphones, sind Mitglieder in Online-Communities und spielen Online-Games.
Ist es wünschenswert oder doch eher irrelevant, dass die Figuren in den Büchern die gleichen Möglichkeiten wie die Leser haben?

Elke Reichart:
Ich denke, die jungen Leser wären irritiert über Jugendbücher, die im Jetzt spielen, in denen aber statt Handys Telefonzellen benützt , Briefe statt SMS geschickt werden und Social Networks überhaupt nicht existieren. Außerdem: Der Leser kann aus den Fehlern der Protagonisten lernen - wenn die Titelheldin des Buches zum Beispiel zu viel Privates gepostet hat und Ärger bekommt. Oder die Online-Boys nach einer  LAN-Party das Haus des Gastgebers verwüsten.   

Jugendbuch-Couch:
Haben Sie während der Entstehung des Buches auch einmal einen Blick in Jugendromane geworfen, die sich mit Cybermobbing, Facebook & Co. beschäftigen?

Elke Reichart:
Ich stand ziemlich unter Zeitdruck und habe damals vor allem Sachbücher und sehr viele aktuelle Printmedien, vor allem Jugendmagazine, gelesen. Und jede Menge wahre Geschichten und Denkanstöße gefunden - Stoff für viele Romane… Wenn ich mehr Zeit hätte…

Jugendbuch-Couch:
Unsere Welt im Jahr 2100. Was glauben Sie, was sich in den nächsten Jahrzehnten verändern wird? Wird das Leben im Netz noch weiter an Bedeutung zunehmen? Oder könnten Sie sich auch vorstellen, dass das Web an Wichtigkeit verlieren wird?

Elke Reichart:
Ob es Facebook noch geben wird? Das bezweifele ich. An seine Stelle wird ein anderes Social Network getreten sein - mit besseren Privateinstellungen, hoffe ich.  Das Internet wird in Zukunft eine noch größere Rolle spielen, aber Probleme wie Urheberrecht und Datenklau sind dann irgendwann endlich gelöst, davon gehe ich aus. Das Prinzip des Miteinander-Teilens, sei es nun Wissen oder Aktuelles, wird wieder im Vordergrund stehen und die Strukturen mehr dem Menschen dienen. Naive Träumerei? Vielleicht. Wir werden sehen.

Jugendbuch-Couch:
Liebe Frau Reichart, herzlichen Dank für das Interview!

Elke Reichart:
Ich sage Danke! Es hat mir viel Spaß gemacht, auf der Couch zu sitzen - viel Erfolg weiterhin!

Corinna Götte, September 2012

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