02.2013 Interview mit Grit Poppe

Jugendbuch-Couch:
Ihr aktueller Jugendroman Abgehauen behandelt eine Zeit in der DDR, in der Jugendliche in Jugendwerkhöfen eingesperrt wurden und dem damaligen System schutzlos ausgesetzt waren. Auch Ihr zuvor erschienener Roman Weggesperrt, der zahlreiche Auszeichnungen erhielt, behandelte dieses Thema – in Abgehauen geht die Geschichte in gewisser Weise weiter, da die Hauptperson "Gonzo" es schafft, der Staatsmacht zu entkommen. Wie kam Ihnen die Idee, die Geschichte auf diese Weise –als "erlebte" Geschichte - zu fortzuschreiben?

Grit Poppe:
Jugendwerkhöfe gab es seit den 50er Jahren in der DDR bis zur Wiedervereinigung. 1990 existierten noch 32 Jugendwerkhöfe. Die Jugendlichen, die dort eingewiesen wurden, galten meist als "schwer erziehbar", d. h. sie waren oft rebellisch und unangepasst – aus sozialen, psychischen oder politischen Gründen - und sollten zu "sozialistischen Persönlichkeiten" mit Zwang, Drill und Arbeit umerzogen werden. Während Anja aus "Weggesperrt" als Tochter einer "Staatsfeindin" in diesem System landet, ist Gonzo ein typisches Heimkind. Bei Lesungen aus Weggesperrt in Baden-Württemberg (dort war das Buch Prüfungslektüre in den Realschulen) fragten mich die Schüler immer wieder nach Gonzos Schicksal, da das Mädchen in der Dunkelzelle des Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau landet und sich dann ihre Spur im ersten Buch verliert. Das hat die jungen Lesenden stark beschäftigt und beunruhigt – und so habe ich angefangen mir eine Geschichte für Gonzo auszudenken. Dass sie die DDR verlässt, hat mit ihrer Persönlichkeit zu tun. Sie gilt als "Dauerentweicherin", das ist auch ihr Einweisungsgrund für Torgau – also sie kämpft eigentlich schon immer darum, auszubrechen, zu entkommen, abzuhauen – eigentlich um sich selbst zu retten, ihr Ich, ihre Seele.

Jugendbuch-Couch:
Sie wuchsen in den 60er/70er Jahren in der DDR auf. Ihr Vater, wie Sie es in Ihrer Biografie beschreiben, "stand durch seine Opposition zum Staat DDR in Misskredit und damit all seine Verwandtschaft". Sie durften kein Abitur machen, obwohl Sie die 10. Klasse mit "sehr gut" abgeschlossen hatten. Wie haben Sie Ihre Kindheit in der DDR erlebt? Gab es vor der Gängelung, was Ihren Berufsweg angeht, vorher schon Momente, in denen Sie sich unfrei gefühlt haben?

Grit Poppe:
Ich hab es schon gehasst, das Pioniertuch zu tragen. Ich mochte diese Zwänge einfach nicht. Aber den Sinn oder Unsinn einer solchen Erziehung hat man als Kind natürlich nicht hinterfragt. In unserer Klasse waren alle Pioniere und später in der FDJ. Das war "normal". Kritisch wurde es für mich, als das Fach Wehrkunde in der Schule eingeführt wurde. Ich sah mich damals als Pazifistin und hab die zunehmende Militarisierung mehr oder weniger offen abgelehnt, beschäftigte mich mit Gandhi, trug das verbotene Schwerter-zu-Pflugscharen-Emblem, besuchte alternative "Friedenswerkstätten" in Berlin.

In unserer Schulklasse habe ich einmal daran mitgewirkt, den Wehrkundeunterricht "kollektiv" zu schwänzen. Die beteiligten Jungen bekamen Verweise und die beteiligten Mädchen bekamen Verwarnungen. Das fand ich schon ziemlich ungerecht. Ich wollte auch einen Verweis.

Jugendbuch-Couch:
Sie haben später noch in Babelsberg im Bereich Dramaturgie neben Ihrem Studium Filmszenen geschrieben. Hat sie dieser "filmische Blick" beim Schreiben beeinflusst?

Grit Poppe:
Für Film interessiere ich mich eigentlich genauso wie für Literatur. Ich hab damals für Studenten der HFF Szenarien geschrieben. In Filmbildern zu denken, hat mir Spaß gemacht. Bei Entstehung neuer Buchideen oder beim Schreiben habe ich tatsächlich oft erst einmal einzelne filmische Szenen im Kopf.

Jugendbuch-Couch:
Würden Sie sich wünschen, dass Abgehauen bzw. Weggesperrt, das ja bereits Schullektüre ist, eines Tages verfilmt wird? Gab es vielleicht schon Anfragen?

Grit Poppe:
Ich denke schon, dass beide Bücher sich als Filmstoff anbieten und würde mich freuen, wenn es eines Tages klappt mit einer Verfilmung. Anfragen gab es bereits. Bisher hat sich allerdings noch nichts Konkretes ergeben.

Jugendbuch-Couch:
Die Schilderungen in Abgehauen beschreiben teilweise sehr direkt die seelischen und körperlichen Grausamkeiten, die den Jugendlichen Tag für Tag widerfahren sind. Der Roman wird bereits für Jugendliche ab 14 Jahren empfohlen. Haben Sie sich beim Schreiben hinsichtlich der jüngeren Leser etwas zurück genommen?

Grit Poppe:
Einige Szenen sind schon sehr drastisch. z. B. als Gonzo in der Dunkelzelle von einem Erzieher sexuell bedrängt wird. Aber selbst in dieser ausweglosen Situation gelingt es Gonzo ja sich zu wehren. Zurückgenommen habe ich mich eigentlich nicht. Ich habe einfach nur versucht, mich in die Figur hineinzudenken und mit ihr zu fühlen und auf dem Papier das zu tun, was Gonzo in der Realität vermutlich getan hätte.

Jugendbuch-Couch:
Wie wichtig finden Sie es, dass Jugendliche – also die Generation, die die DDR nicht selbst miterlebt haben – mit der ungeschönten Wahrheit konfrontiert werden?

Grit Poppe:
Ich finde wichtig, dass Jugendliche vor allem auch emotional begreifen, was der Unterschied zwischen einer Diktatur und einer Demokratie ist. Freiheit und Menschenrechte sind nicht so selbstverständlich wie es heute vielleicht manchem scheinen mag. "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Das ist ein toller Satz. Aber genügt es, ihn zu kennen? Was bedeutet es für einen Menschen, wenn seine Würde mit Füßen getreten wird? Oft hat das lebenslange Folgen – und oft auch noch bis in die nachfolgende Generation hinein. Damit es nicht zu Wiederholungen solcher Traumata kommt, sollte man sich schon mit der Geschichte und den Schicksalen der Betroffenen auseinandersetzen.

Jugendbuch-Couch:
Woraus haben Sie die vielen historischen Details zu Abgehauen gewinnen können? Haben Sie bei Ihrer Recherche auch Zeitzeugen befragt?

Grit Poppe:
Ja, ich habe auch bei diesem Buch wieder eng mit Zeitzeugen zusammengearbeitet. Während ich für Weggesperrt hauptsächlich mit Menschen sprach, die in Durchgangsheimen, Jugendwerkhöfen und im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gewesen waren, kam für Abgehauen eine ganz neue Gruppe von Zeitzeugen hinzu: die Botschaftsbesetzer, die sich 1989 im Palais Lobkowicz in Prag aufhielten, um in die Freiheit zu gelangen.

Jugendbuch-Couch:
Gibt es zu der Protagonistin "Gonzo" eine reale Person, die Ihnen beim Anlegen des Charakters eine Orientierung war?…Oder ist "Gonzo" und damit ihre Geschichte erst während Ihrer Recherchen entstanden?

Grit Poppe:
Eigentlich beides. Es war mir wichtig, dass ein Heimkind im Mittelpunkt des Geschehens steht – da diese Kinder ohne Beistand und Lobby oft in den Umerziehungsstätten der SED landeten und es auch besonders schwer hatten, da ihnen einfach Mutter und Vater fehlten. Anja hat die Hoffnung, ihre Mutter wiederzusehen; Gonzo weiß, dass sie allein klarkommen muss. Aber daraus entwickelt sich letztlich ihre Stärke.

Dass man auch an verschiedene reale Personen denkt beim Schreiben, liegt auf der Hand. Bewusst und unbewusst nutzt man ja reale Erfahrungen und Begegnungen.

Jugendbuch-Couch:
Beeindruckend sind die Charakterisierungen der Akteure – auch die der Menschen aus dem wahren Leben, wie der Botschafter in der Prager Botschaft; war bzw. ist er wirklich so ein großzügiger und besonnener Mensch, wie ihn "Gonzo" beschreibt? Haben Sie Ihn vielleicht einmal kennen lernen dürfen?

Grit Poppe:
Hermann Huber, der 1989 der deutsche Botschafter in Prag war, hat mich stark beeindruckt. Ich "kannte" ihn aus Erzählungen von Zeitzeugen, auch gibt es einige Bild- und Tondokumente, die diese Berichte bestätigten. Er war der richtige Mensch am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt. Auf ganz unbürokratische, praktische, menschliche Weise hat er sich für "seine Flüchtlinge" eingesetzt. Anlässlich einer Veranstaltung zu Abgehauen in Berlin habe ich ihn dann auch persönlich kennengelernt. Das war schon eine besondere Begegnung. Wann trifft man als Autorin schon mal eine "literarische Figur"? Auch wenn er meinte, er käme im Buch "viel zu gut weg", glaube ich, dass die Besetzer 89 in Prag sehr viel Glück hatten, dass Herr Huber damals ihr "Herbergsvater" war.

Jugendbuch-Couch:
Haben Sie im Rahmen Ihrer Recherche Originalschauplätze aufgesucht?

Grit Poppe:
Ja, ich war z. B. in Prag und in der Botschaft.

Jugendbuch-Couch:
Gab es dort Begegnungen oder Erlebnisse, die Ihnen im Gedächtnis geblieben sind?

Grit Poppe:
Das besondere für mich war eigentlich, dass meine Kinder mich nach Prag begleitet haben; wir sind dann gemeinsam die Wege der einstigen Flüchtlinge gegangen. Und dank eines Taxifahrers, der uns falsch abgesetzt hatte, sind wir tatsächlich auch umhergeirrt wie viele DDR-Bürger damals, ehe wir die Botschaft endlich fanden.

Jugendbuch-Couch:
Was hat die Wiedervereinigung für Sie persönlich bedeutet? Was bedeutet sie heute für Sie?

Grit Poppe:
Ich war 1989 in der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, die aus der DDR ein "freies Land für freie Bürger" machen wollte. Die SED sollte entmachtet werden und Platz geschaffen für die neuen kreativen Kräfte. Es gab ja sehr viele Reformideen damals. Die Wiedervereinigung gehörte nicht dazu; jedenfalls nicht sofort. Die beiden deutschen Staaten sollten sich "aufeinander zu reformieren" – so war die schöne und ziemlich blauäugige Vorstellung. Heute sehe ich das realistischer. Auch wenn die Wiedervereinigung holterdiepolter kam, war sie doch alternativlos und richtig.

Jugendbuch-Couch:
Haben Sie im Rahmen Ihrer Recherchen etwas darüber erfahren können, ob die "Gefängniswärter" und ihre Befehlshaber je zur Rechenschaft gezogen wurden?

Grit Poppe:
Die Erzieher des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau und die Verantwortliche, Volksbildungsministerin der DDR, Margot Honecker, sind nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Das ist für die Betroffenen sehr bitter.

Jugendbuch-Couch:
Sie waren zur Zeit der friedlichen Revolution politisch sehr aktiv. Wie sehr interessiert Sie die Politik heute und worauf kommt es Ihnen gerade im Hinblick auf Ihre jüngeren Leser an?

Grit Poppe:
Politik interessiert mich natürlich auch heute – z. B. im Umgang mit der Vergangenheit oder mit den Betroffenen von Unrecht. Und natürlich interessiert sie mich auch dann, wenn es um gegenwärtige Menschenrechtsverletzungen geht.

Einige jugendliche Leserinnen und Leser haben mir geschrieben, dass sie privat mit Schulfreunden nach Torgau gefahren sind – sich die Ausstellung und die Dunkelzellen angesehen haben und mit Zeitzeugen sprachen. Das hat mich sehr beeindruckt. Dass sie ein Buch so ernst nehmen und dass der Wunsch in ihnen entsteht, sich selbst ein Bild zu machen.

Ich denke, wenn man emotional begriffen hat, was in der Unfreiheit einer Diktatur mit den Menschen passiert, dann weiß man die Freiheit und Demokratie ganz anders zu schätzen.

Jugendbuch-Couch:
Was hat die Jugendlichen am meisten bewegt?

Grit Poppe:
Die meisten, die sich äußerten, haben mit Gonzo mitgelitten; sie auf ihrem Weg begleitet, sind mit ihr zusammen abgehauen. Sie haben sich mit der Figur, der so viel Unrecht passiert ist und die dennoch nicht aufgab, sehr verbunden gefühlt, was mich natürlich sehr berührt hat.

Jugendbuch-Couch:
Sie sind vielen auch als Kinderbuch-Autorin von fantastischen Geschichten und Buchreihen bekannt. Was bedeutet es für Sie, sowohl für Kinder als auch für Jugendliche zu schreiben?

Grit Poppe:
Sich fantastische Abenteuer für die Jüngeren auszudenken, macht einfach auch Spaß. Man kann eigene Welten erfinden - sei es nun eine urzeitliche Welt unter der Erde, einen wasserspeienden Drachen im Feuerland oder einen kleinen Vampir, der sich versehentlich in einen Menschen verwandelt.

Ich nehme Kinder und Jugendliche als Leser genauso ernst wie Erwachsene. Auch kleine Kinder haben schon ein Gefühl für Sprache und fiebern in Geschichten mit.

Außerdem sind auch Weggesperrt und Abgehauen im weitesten Sinn Abenteuergeschichten. Anja und Gonzo befinden sich in Extremsituationen, müssen sich aus ihren Problemen herauskämpfen und über sich selbst hinauswachsen.

Jugendbuch-Couch:
Wie sehen Ihre zukünftigen Pläne oder Projekte aus? Würden Sie uns da schon etwas verraten?

Grit Poppe:
Gern möchte ich weiter für Kinder, Jugendliche und Erwachsene schreiben.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist mir da weiterhin besonders wichtig. Pläne gibt es, aber es ist noch zu früh, Genaueres zu verraten.

Jugendbuch-Couch:
Vielen Dank, liebe Frau Poppe, dass Sie sich die Zeit für meine Fragen genommen haben.

Grit Poppe:
Ich danke Ihnen sehr für das Interesse!

Stefanie Eckmann-Schmechta, Februar 2013.

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