Ein ergreifender Coming-of-Age-Roman über die Liebe zum Leben.
An ihren letzten, desaströsen gemeinsamen Auftritt vor einigen Jahren erinnern sich sowohl Grace als auch Callum nur sehr ungern. Seitdem herrscht Funkstille, beide leben ihr Leben und gehen einander aus dem Weg. Callum fällt erst jetzt auf, dass er Grace eine ganze Zeit überhaupt nicht in der Schule gesehen hat. Doch nun sollen sie gemeinsam an einem mehrwöchigen Musikprojekt arbeiten. Das Ziel: Ein eigener Song, der bei der großen Schulaufführung präsentiert wird. Na toll! Callum hat der Musik längst abgeschworen und will eigentlich nie wieder eine Gitarre in die Hand nehmen. Auch Grace hadert mit der Einteilung, da sie die Jahre ohne Callum ganz andere Dinge im Kopf hatte, die dieser nicht erfahren darf. Ihr Vorhaben gerät jedoch ins Wanken, als sich die beiden während des Songschreibens näher kommen.
Aus der Liebe zur Musik ist bei Callum in den letzten Jahren eine innere Leere und Abneigung geworden. Seine Mutter hat die dreiköpfige Familie für ihre eigene Musik-Karriere sitzengelassen - ein Verlust, den Callum bis jetzt nicht überwunden hat. Hinzukommt, dass sich sein ständig abwesender Vater und er immer mehr voneinander entfremden. In der Schule tritt er als mürrischer Bad Boy aus reichem Hause auf, der von Grace’ mitreißender „Good vibes only“-Einstellung genervt ist. Zumindest anfangs, denn irgendwann springt der Funke auch bei ihm über. Allerdings erkennt er schnell, dass hinter der unbändigen Lebensfreude seiner Projektpartnerin eine ganz andere Wahrheit steckt: Grace hat Krebs und sie weiß nicht, wie oft nach dem Heute noch ein Morgen kommt. Callum weiß dagegen ganz sicher, dass er Grace mit ihrem Schicksal nicht allein lassen wird.
„Es ist mir nie in den Sinn gekommen, das nicht mit ihr durchzustehen. Sie nicht zu lieben.“
Im Gegensatz zu Callum werden vermutlich sehr viele Leserinnen und Leser das Buch „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ von John Green kennen, dessen Geschichte sich ebenfalls um zwei todkranke, verliebte Teenager dreht. „Wenn heute unser Morgen wäre“ geht dabei einen ähnlichen Weg, jedoch mit einer etwas anderen Ausgangslage. Während Grace aufgrund einer inoperablen Metastase am Herzen um ihr Leben bangt, ist Callum kerngesund und mit einem klaren Plan für die Zukunft ausgestattet. Zwei Welten prallen aufeinander. Ganz leise entsteht mit jedem Tag, jeder neuen Songzeile, jeder Erkenntnis zum jeweils anderen ein Raum für Callum und Grace, ein kleiner Kosmos, der alle Sorgen und Ängste ausschließt. Für Grace ist jedoch klar, dass es keine wirkliche Beziehung für sie beide geben wird, denn niemals würde sie Callum diesen Schmerz, den die Zukunft womöglich mit sich bringen könnte, aus freien Stücken zufügen. Doch sie hat ihre Rechnung ohne Callum gemacht, denn dieser weicht auch bei der erneuten Chemo nicht von ihrer Seite.
Die Liebesgeschichte der beiden ist natürlich wahnsinnig ergreifend, ein bisschen kitschig und voller Herzschmerz. Hat ihre Liebe eine Zukunft? Wie viel Nähe kann Grace zulassen? Hin und wieder fragt man sich beim Lesen, ob Callum nicht auch den einen oder anderen Zweifel hätte haben dürfen, um die Handlung noch authentischer wirken zu lassen. Optimismus versprühen nahezu alle Figuren in diesem Buch: Grace’ Clique, die bald auch Callum in sich aufnimmt, ihre Eltern und nicht zuletzt Lou, die Grace seit ihrer Diagnose von der Kinderkrebsstation kennt. Trotz aller Positivity und Lebensfreude schafft die Story immer wieder den Wechsel hin zu den Schattenseiten dieser tückischen Krankheit. Im Gegensatz zu Grace, die noch auf eine Therapie hoffen darf, weiß Lou, dass sie an dem Krebs sterben wird. Ohne Psychotherapie würde Grace ihren steinigen Weg ins Erwachsensein nicht schaffen. Zu groß ist schon jetzt das Trauma, das wohl ein Leben lang Narben hinterlassen wird. Grace liebt ihr Leben und die Menschen darin über alles, doch sie hat immer wieder lähmende Ängste, die sich nicht selten in Panikattacken ihren Weg nach außen bahnen.
Authentisch, berührend, traurig und wunderbar lebensbejahend zugleich
Beim Lesen der Geschichte spürt man förmlich, dass die Autorin Sophie Herbst weiß, wovon sie spricht. Sie war selbst mit gerade einmal 21 Jahren an Krebs erkrankt und teilt heute ihre Erfahrungen mit jungen Menschen in der gleichen Situation. Grace’ Gedanken rund um die Chemo, ihre Angst vor den Nebenwirkungen, der Übelkeit, der Fatigue und den Depressionen zeugen von sehr viel Authentizität und Ehrlichkeit. Klinische Befunde, Behandlungsmöglichkeiten, Therapieabläufe werden erklärt und mit persönlichen Schicksalen verwoben. Viel zu selten macht man sich bewusst, wie viele Kinder und Teenager das Krankenhaus als ihr zweites Zuhause bezeichnen müssen.
Wie ein roter Faden zieht sich Callums und Grace’ Musikprojekt durch die Handlung. Immer wieder wird eine Zeile hinzugefügt, um Worte gerungen und gestritten. Kann die Aufführung trotz Chemo stattfinden? Es soll an dieser Stelle nicht zu viel vom Ende vorweggenommen werden. Nur so viel: Es wird getrauert, geliebt und geweint. Menschen finden zueinander, die sich einst verloren hatten. Es wird gehofft, gebangt und gekämpft. Aber niemals verloren. Das Leben zeichnet für Jede und Jeden einen eigenen Weg. Manchmal ist einer kürzer als der der anderen. Aber wie wundervoll ist es, wenn man einen Teil dieses Weges zusammen gehen darf.
Fazit
Dieses Buch ist wahrlich keine leichte Lektüre und wird viele wohl ebenfalls zum Weinen bringen. Trotz aller Traurigkeit, Dramatik und Melancholie wird hier vor allem eines gefeiert: das Leben und die Liebe.



Deine Meinung zu »Wenn heute unser Morgen wäre«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!